Mann auf dem Hochseil über bunten Schmetterlingen
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Work-Life-Balance
Zeitgeistiger Unfug oder Schlüssel-Diskussion?

Arbeit und Leben sind für Viele aus der Balance geraten. Andere sehen zwischen beiden keine Dichotomie. Philosophische Anmerkungen zur Diskussion.

Von Michael Andrick 20.12.2020

Nimmt man es genau, so ist "Arbeit-Leben-Gleichgewicht" ein ebenso sinnvoller Begriff wie "Tisch-Möbel-Gleichgewicht" oder "Brot-Backwaren-Balance". Arbeit ist Teil des Lebens, "Leben" der Oberbegriff aller Erfahrung, die wir machen – und die umfasst neben der Arbeit vieles andere mehr. Es ist deshalb Unfug, in einer Wortschöpfung zu suggerieren, die beiden Begriffe lägen auf derselben Abstraktionsebene und könnten in ein wie auch immer geartetes "Gleichgewicht" gebracht werden. Das ist ein logischer Fehler, der einen philosophischen Kommentar nicht trägt.

Wir wollen an der fraglichen Wortschöpfung etwas zu denken finden und noch etwas mehr über sie zu denken geben. Folgen wir also einer anderen, der ideologiekritischen Spur. Denn die Verwendung dieser Wortschöpfung hat im politischen Raum immer auch ideologischen Gehalt.

Gehen wir aber lieber nicht der ideologischen Absicht nach, die der betrachteten Wortschöpfung zugrunde liegen mag (oder mochte). Den oder die listigen Wortschöpfer (oder PR-Akrobaten) aufzuspüren wäre journalistisch, aber nicht philosophisch interessant. Solche Urheberforschung führt auf das Terrain nie ganz belegbarer Diagnosen, zum Beispiel dieser: "Die Neoliberalen waren’s! Sie beauftragen die Einzelnen mit dem Ausgleich der Unwucht im System, um sie umso besser zu vernutzen!"

Philosophisch bedeutsam ist hingegen, dass der Begriff "Work-Life-Balance" ein Fixpunkt des Diskurses um Arbeit, Privatleben und ihr Verhältnis geworden ist. Fragen wir also besser: Was lernen wir daraus, dass dieser Begriff verwendet wird? Und welche ideologischen Tendenzen befördern wir, wenn wir an seiner Diskussion teilnehmen? Ich beschränke mich auf zwei solche paarweisen Betrachtungen.

Eine stille Prämisse

Zunächst überführt die Diskussion um "Work-Life-Balance" unser kollektives Bewusstsein einer stillen Prämisse, die es hegt und pflegt: Wir haben die vorgebliche Tatsache der Entfremdung unserer Erwerbsarbeit vom Sinn unseres je einzigartigen Lebens gründlich verinnerlicht. Wo eine Balance zwischen Arbeit und "dem Rest des Lebens" als Aufgabe gesehen wird, da ist außer Betracht geraten, dass Arbeit ein sinnstiftender Bestandteil eines Lebens nach eigenen Wertvorstellungen sein kann.

Für alle, deren glückliche Lebensumstände es erlauben, ihre Arbeit nicht als entfremdet, sondern vielmehr als in ihren Wertvorstellungen beheimatet zu betrachten, ist die "Work-Life-Ba­lance"-Debatte ein Pflasterdiskurs der Unglücklichen und nicht der eigenen Rede wert.

Viele solche Menschen finden sich (meiner Erfahrung nach) trotz Kettenbefristungen und Stellenschwund in manchen Fächern immer noch an Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen. Aber auch in den Entwicklungsabteilungen der Unternehmen, in Verwaltungen, an Schulen und in politisch-ideologisch getriebenen Bereichen wie Verbänden oder NGOs und im Gesundheitswesen erleben Menschen ihre Tätigkeit oft zu Recht als Arbeit an wichtigen Aspekten des Gemeinwohls.

Belästigen wir solche Menschen mit der Diskussion um ein "Arbeit-Leben-Gleichgewicht", so nötigen wir ihnen eine Dichotomie von Fremde (Arbeit) und Heimat (der Rest) auf, die sie gar nicht betrifft. Wir leisten dann der (vielleicht linken?) ideologischen Tendenz Vorschub, die Industriegesellschaft einer pauschalen Lebensfeindschaft zu bezichtigen. Das sieht dann wirklich nach zeitgeistigem Unfug aus.

Der harte Realitätskern

Ganz andere Schlüsse und eine andere "ideologische Mittäterschaft" der "Work-Life-Balance"-Diskutanten ergeben sich dagegen, wenn wir uns gedanklich der Mehrheit der Bevölkerung zuwenden.

Eine bewusste Wertereflexion, die einer vorsichtig ausgewählten Erwerbsarbeit ihren sittlich befriedigenden Platz anweist und einen Frieden von Erwerb und allgemeiner Lebensaussicht herstellt, ist voraussetzungsreich. Und eine solche Lebenseinrichtung gelingt (mit oder ohne eigenes "Verschulden") auch bei weitem nicht allen, die sie unternehmen. Schließlich haben viele Menschen diese Wahl auch gar nicht, sei es aus Mangel an Fähigkeit, Gelegenheit oder Muße zur planvollen Stiftung der eigenen "zweiten Natur" (Nietzsche).

Und für diese vielen tüchtigen, aber meist nicht bewusst mit einer Entfremdungskrise ringenden Menschen hat die "Work-Life-Balance"-Debatte einen harten Realitätskern: Die Erwerbsarbeit, die diese Menschen aus Zufall, Familientradition, Neugierde, Ratlosigkeit oder schierer wirtschaftlicher Not einmal ergriffen haben, hat nun ihrerseits weite Strecken ihrer Lebenszeit im Griff; und dieser Griff ist in den letzten 30 Jahren fester und bedrängender geworden.

Die Globalisierung unserer Wertschöpfungsketten, die damit eingeleitete Arbeitsverdichtung, die Absenkung der Sozialstandards und die gezielte Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen – man vergleiche "Flexibilisierung", "Fördern und Fordern", "sachgrundlose Befristung" und andere (ja wirklich) rot-grüne Prinzipien – haben der Arbeitnehmerseite ein Leben in sozialer Sicherheit erschwert.

Gleichzeitig hat eine soziale Abwertung nicht direkt profitträchtiger Arbeit stattgefunden. Dass eine Geringschätzung der Arbeit an den Voraussetzungen einer humanen Gesellschaft Platz gegriffen hat, zeigt sich nicht nur in der Prekarisierung geistiger und bildender Arbeit an Universitäten oder im Journalismus. Je unmittelbarer eine Arbeit zum Beispiel andere Menschen auch physisch pflegt und behütet, die sich selbst noch nicht oder nicht mehr helfen können, je geringer bezahlen wir sie. Zugespitzt gesagt: Je direkter eine Arbeit das Würdepostulat unserer Verfassung stützt, je weniger haben wir materiell und rechtlich für sie übrig.

Für die sozialen Kreise, die unter diesen Entwicklungen am meisten leiden, ist die Durchformung des ganzen Lebens durch den Stress des Erwerbs real und leidvoll. Denken wir zum Beispiel an einfache Angestellte, an die Pflege- und Betreuungskräfte aller Bereiche, an Produktionsarbeiter und Freiberufler in mäßig bezahlten Feldern. Für sie "greift" eine, nämlich die sozialpolitisch beseelte (und nicht auf weitere Arbeitnehmerselbstoptimierung zielende) Version der "Work-Life-Balance"-Diskussion vollkommen. Für sie ist das eine Schlüsseldiskussion.

Intellektuelle sollten für das Wohlergehen und die Integrität dieser Gruppen eintreten (zu denen sie oft selbst gehören). Dafür lohnt es, den neoliberalen Beigeschmack der "Work-Life-Balance"-Debatte zu tolerieren und sich ins Getümmel zu stürzen; besonders für Menschen, die in Forschung und Lehre eine Stimme haben und damit einen mentalitätsstiftenden Einfluss ausüben. Nutzen wir die "Work-Life-Balance"-Diskussion als Gelegenheit Vorschläge zu formulieren, wie die Geschädigten des ökonomistischen Zeitgeistes wieder stärker zu ihrem Recht kommen können.

Literatur

Vom Autor erschien jüngst "Erfolgsleere – Philosophie für die Arbeitswelt" (Verlag Karl Alber  2020, 208 S., 15 Euro). Es handelt sich um eine Gegenwartsdiagnose der Industriegesellschaft, die "das Muster der erfolgsorientierten Rat­geberliteratur durch das einer moralphilosophischen Analyse" ersetzt (Aleida Assmann in der Literarischen Welt). Dabei werden Kernbegriffe der Arbeitswelt wie Erfolg, Ehrgeiz, Karriere, Führung und Professionalität kritisch in einen neuen Zusammenhang gestellt.