Teströhrchen auf denen Aufkleber mit der Aufschrift "If at first you don't succeed try... try again".
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Karrieren in der Wissenschaft
"Scheitern als Normalfall"

2010 rief Melanie Stefan dazu auf, im wissenschaftlichen CV auch Fehlschläge darzustellen. Ein Gespräch über Erfolgsquoten und das Quäntchen Glück.

Von Vera Müller 17.11.2021

Forschung & Lehre: Was trieb Sie 2010 an, das Thema "Scheitern in der Wissenschaft" stärker in die Öffentlichkeit zu tragen?

Melanie Stefan: Das gründete damals auf meiner eigenen Erfahrung. Ich war gerade mit meiner Doktorarbeit fertig und als Postdoc auf der Suche nach Stipendien. Ich hatte bereits ein Thema im Kopf und eine Forschungsgruppe gefunden, mit der ich unbedingt arbeiten wollte. Also bewarb ich mich auf zahlreiche Stipendien und erhielt eine Ablehnung nach der anderen. Die vielen Absagen waren dann ein einschneidendes, schon fast existenzielles Erlebnis. Es geht ja nicht nur darum, mit den vielen Absagen persönlich umzugehen, sondern um die Frage, ob man die wissenschaftliche Karriere überhaupt fortführen kann, in die man zehn Jahre investiert hat. Berücksichtigt man jedoch, dass die Erfolgsquote bei Stipendien bei ungefähr 15 Prozent liegt, ist Scheitern der Normalfall und Nicht-Scheitern die Ausnahme. Es wäre wichtig, das zu normalisieren. Als ich mich damals um die Postdoc-Stipendien bewarb, war die Erfahrung des Abgelehntwerdens völlig neu für mich. Jetzt bin ich darauf vorbereitet, wenn ich mich irgendwo bewerbe. Natürlich ist das immer noch nicht schön, aber ich kann es besser einordnen. Was für mich seinerzeit aber auch schwierig war: Die Lebensläufe anderer Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler dokumentieren immer, was sie alles geschafft haben. Man denkt dann, man sei allein mit seinem Scheitern. Meine Motivation war, dazu aufzurufen, das Thema "Scheitern" offener zu besprechen.

Portraitfoto von Dr. Melanie Stefan
Dr. Melanie Stefan ist Senior lecturer an der Edinburgh Medical School, Biomedical Sciences, der University of Edinburgh. Chris Coe / chriscoephoto.com

F&L: Hat sich seit Ihrem Aufruf etwas verändert?

Melanie Stefan: Es gibt inzwischen mehrere Menschen, die ihren "CV of Failures" auf ihrer Homepage veröffentlichen, zum Beispiel Johannes Haushofer. Sein "Lebenslauf des Scheiterns" ging auch durch die sozialen Medien. Oder die Forscherin Veronika Cheplyginain in Dänemark, die in ihrem Blog "How I fail" verschiedene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu ihrem Scheitern befragt. Meines Erachtens existiert inzwischen ein offenerer Umgang damit. Aber natürlich gibt es noch viel zu tun.

F&L: Was schlagen Sie vor?

Melanie Stefan: Als positives Beispiel habe ich in meinem Nature-Beitrag damals den Sport erwähnt, weil man hier die Fehlschläge nicht verstecken kann. Wenn ein Elfmeter verschossen wird, dann weiß und sieht das jeder. Natürlich stehen professionelle Sportler unter einem sehr hohen Druck. Aber man kann auch mal verlieren und erhält beim nächsten Spiel eine neue Chance, das ergibt schöne Geschichten. Davon könnte die Wissenschaft etwas lernen. Vorbild könnte auch die Start-up-Szene sein, in der offen erzählt wird, was mal nicht funktioniert hat. Das empfinde ich als sehr befreiend. Meiner Meinung nach sollte man die Fehlschläge loslösen von einem persönlichen Versagen und sich überlegen, wie man es besser machen kann.

F&L: Eine Wissenschaftskarriere gilt dann als erfolgreich, wenn sie in eine Berufung mündet. Herrscht bei denen, die keine Professur erreichen, das Gefühl des Gescheitertseins vor?

Melanie Stefan: Lange Zeit ging es bei der Frage nach der wissenschaftlichen Karriere eher darum, eine Professur zu erlangen. Inzwischen ist das nicht mehr der normale Weg. 2018 war ich Teilnehmerin des FENS Forum of Neuro­science und da gab es eine Veranstaltung mit dem Namen "Alternative Careers". Der Raum war so voll, dass die Veranstalter einen zweiten Raum dafür zur Verfügung stellen mussten. Die alternativen Karrieren außerhalb der Wissenschaft sind nicht mehr die Alternative, sondern teils der Normalfall und die Professur ist die Ausnahme. Und es ist ja auch nicht so, dass die anderen Karrieren minderwertig wären. Innerhalb der Universitäten wird das immer noch so dargestellt, als wäre die Professur das einzig Wahre. Meiner Meinung nach ist es gut und wichtig, das zu hinterfragen.  

F&L: Bedingen sich nicht ein möglicherweise zu hohes Sicherheitsdenken in der Forschungsförderung (Mainstream-Forschung) und die individuelle Sorge vor einem Scheitern?  

Melanie Stefan: Das ist sicher richtig. Als Postdoc hat man im Gegensatz zu einer Professorin beziehungsweise einem Professor viel weniger Möglichkeiten. Zudem befindet man sich unter einem starken Druck, da man es bis zum gewissen Zeitpunkt schaffen muss, die Professur zu erlangen, sonst wird es nichts. Es gibt kein "Dazwischen". In Frankreich kann man zum Beispiel lebenslang wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. wissenschaftliche Mitarbeiterin bleiben, das heißt man kann Forschung betreiben, auch ohne Professur. In Deutschland herrscht das "Up or out-Denken" vor. Das macht das Scheitern bei Stipendien oder Forschungsanträgen natürlich zu einer existenziellen Frage, weil es sofort die Chancen auf eine Professur beeinträchtigt.  

"Eine wissenschaftliche Karriere kann man eigentlich nur ansteuern, wenn man diese Zahlen komplett ignoriert und nicht darüber nachdenkt, wie unwahrscheinlich das eigentlich ist."

Dr. Melanie Stefan

F&L: Wird das Risiko einer wissenschaftlichen Karriere nicht genug wahrgenommen oder sogar verdrängt?

Melanie Stefan: Für viele Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler ist die Wissenschaft viel mehr als nur ein Job. Weil die Ausbildung so lange dauert, hat man ein bestimmtes Bild von sich, zu dem auch gehört, dass man eine Professur bekommt. Man sieht sich sozusagen in dem System. Wenn das dann nicht funktioniert, ist man nicht nur mit der Erfahrung des Scheiterns konfrontiert, sondern man muss auch in Frage stellen, wer man jetzt eigentlich ist und wofür man all diese Jahre gearbeitet hat. Vor ein paar Jahren wurde in Großbritannien eine Statistik veröffentlicht, die darstellte, wo Promovierte in STEM-Fächern, also Naturwissenschaften, Technologie, Ingenieurwissenschaften und Mathematik, beruflich Fuß fassen. Demnach finden weniger als vier Prozent der Promovierten eine permanente Stelle als Forscherin beziehungsweise als Forscher, und die Chance auf eine W3-Professur liegt bei weniger als einem halben Prozent. Eine wissenschaftliche Karriere kann man eigentlich nur ansteuern, wenn man diese Zahlen komplett ignoriert und nicht darüber nachdenkt, wie unwahrscheinlich das eigentlich ist. Sonst hat man überhaupt keine Chance. Das ist so wie bei Menschen, die Bundesliga-Spieler werden wollen oder Konzertpianistin: Man schlägt diesen Weg trotz des großen Risikos und der geringen Chancen ein. Man muss es ausblenden, um sich von Tag zu Tag motivieren zu können – oder man braucht ein überzogenes Selbstbild, das davon ausgeht, man gehöre eh zu diesem halben Prozent.  

F&L: Plagten Sie auch Selbstzweifel, wenn Ihre Forschungsanträge abgelehnt wurden?

Melanie Stefan: Das Gefühl hatte ich sehr oft und habe es auch jetzt noch teilweise. Ich habe extremes Glück gehabt, dass es für mich am Ende funktioniert hat. Aber ich unterscheide mich intrinsisch nicht von Kolleginnen und Kollegen, die den Wissenschaftsbetrieb verlassen haben oder verlassen mussten. Das sind dann so Dinge wie, dass man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist oder ein Projekt gut läuft und dann zum nächsten führt. 

F&L: Nun könnte der Einwand kommen, dass es zum Geschäft der Wissenschaft gehört, Niederlagen wie Ablehnungen durchzustehen.

Melanie Stefan: Das ist schon richtig. Was man als Nachwuchswissenschaftlerin bzw. Nachwuchswissenschaftler braucht, ist ein Perspektivenwechsel. Eine Freundin von mir sagte mal, wir Anfänger sollten nicht die Erfolge feiern, sondern schon die Antrags-Einreichungen. Damit hat man schon etwas Schwieriges geschafft. Ob der Antrag angenommen oder abgelehnt wird, das hat man dann nicht mehr in der Hand. Diese Einstellung hilft dabei, das "Scheitern" anders einzuordnen. Schwierig finde ich es, wenn Professorinnen und Professoren sagen: "Ja, es ist schwer, und man wird in acht von zehn Fällen abgelehnt, aber halte durch, es lohnt sich am Ende." Das ist eine schwierige Botschaft, denn für viele lohnt es sich für ihre eigene Karriere nicht. Das wäre dann richtig, wenn strukturell die Voraussetzungen gegeben wären, dass man mit dieser Durchsetzungskraft und Persistenz auch erfolgreich ist. Hier muss man meines Erachtens ansetzen, um für sich das Scheitern anders zu definieren beziehungsweise zu definieren, was eigentlich Erfolg bedeutet. Es gibt nicht nur die Professur, sondern auch andere Wege, um die phantastische Ausbildung und die Kapazitäten einzusetzen, die man besitzt, und um erfolgreich zu sein.

F&L: Sie sind nun Professorin an der Universität in Edinburgh. Wie wichtig sind Flexibilität und Mobilität für den Erfolg einer wissenschaftlichen Karriere?

Melanie Stefan: Ich konnte immer dorthin gehen, wo mir eine interessante Stelle angeboten wurde. Ich habe keine Kinder, ich kann morgen umziehen und irgendwo anders arbeiten. Das ist natürlich eine Freiheit, die nicht alle haben. Der Wissenschaftsbetrieb favorisiert sehr stark diejenigen, die diese Flexibilität haben, die umziehen können, vielleicht keine Kinder oder entweder Partner haben, die mitgehen, oder ohne Partnerin beziehungsweise Partner sind. Und dann gibt es die, die zu der "Halben-Prozent-Chance" sagen: "Das macht nichts, dann muss man eben zu den ‚Halben-Prozent-Besten‘ gehören. Das bekomme ich schon hin." Aber es ist ja nicht so, dass das System die Besten herausfiltert. Es selektiert nach den oben beschriebenen Mechanismen und nicht nach Kriterien, wie gut man als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler ist. Es geht also nicht nur um Leistung, Talent und Ideen oder sogar harte Arbeit, sondern um generelle Lebenssituationen.   

F&L: Wie blicken Sie jetzt auf das Thema "Scheitern"?

Melanie Stefan: Ich bin Senior Lecturer, was in Deutschland einer W2-Professur entspricht. Ich habe einen entfristeten Vertrag, das heißt ich kann nicht mehr existenziell scheitern, wie ich es noch vor ein paar Jahren konnte. Allerdings hat sich auch verschoben, was ich als Scheitern empfinde. Jetzt empfinde ich ein Gefühl des Gescheitertseins, wenn ich einen Doktoranden oder eine Masterstudentin nicht so unterstützt habe, wie er oder sie es vielleicht verdient hätten.