Verschwommene Gruppe von Menschen
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Psychische Erkrankungen
Wenn die Arbeit krank macht

Die heutige Berufswelt ist von Verdichtung und Beschleunigung gekennzeichnet. Peter Falkai spricht über die Folgen psychosozialer Belastungen.

Von Ina Lohaus 30.01.2019

Forschung & Lehre: Sie sind Sprecher der Leopoldina-Arbeitsgruppe "Arbeit und psychische Erkrankungen". Weshalb beschäftigt sich die Leopoldina mit diesem Thema?

Peter Falkai: Als eine Gruppe derjenigen, die psychisch kranke Menschen aus ärztlicher Sicht betreuen, haben wir dieses Thema angestoßen. Es ist unter zwei Aspekten von Bedeutung. Zum einen kann ein Teil der psychischen Erkrankungen, besonders im Bereich affektiver Erkrankungen wie zum Beispiel der Depression, durch die Arbeit ausgelöst werden. Zum anderen gehören Personen, die einmal psychisch krank waren oder akut erkrankt sind, zur Risikogruppe für Arbeitslosigkeit. Da es um psychosoziale Faktoren für die Verursachung und Fortdauer einer psychischen Erkrankung geht, ist der Zusammenhang von Arbeit und psychischen Erkrankungen für uns ein zentrales Thema.

F&L: Welches sind die wesentlichen Faktoren in der heutigen Arbeitswelt, die zu psychischen Belastungen führen?

Peter Falkai: Ein Faktor, der immer wieder genannt wird, ist die Globalisierung. Aber was dem zugrunde liegt und großen Stress bereitet, ist die Digitalisierung und mit ihr auch die neuen Berufsformen: Jeder ist leichter erreichbar, es stehen immer größere Datenmengen zur Verfügung, die zum Beispiel via E-Mail schnell übermittelt werden können und die man dann auch entsprechend zur Kenntnis nehmen muss. Hinzu kommt eine enge Terminsetzung. Man hat ein Treffen um vier Uhr und um zwei Uhr bekommt man die Agenda und die letzten Unterlagen. Implizit und explizit wird erwartet, dass man sich die Unterlagen vorher noch anschaut. Zudem gibt es mittlerweile in der sogenannten On-Demand-Economy neue Formen der Beschäftigung. Es ist nicht mehr erforderlich, dass man einen festen Arbeitsplatz hat mit einem eigenen Schreibtisch, sondern man loggt sich von irgendwo ein, arbeitet seinen Teil ab und wird dann entsprechend entlohnt. Viele sind dabei als Selbstständige tätig und kommen nicht in den Genuss von sozialrechtlichen Absicherungsmaßnahmen, von der Krankenversicherung bis hin zu Rentenansprüchen etc. Die Digitalisierung verändert nicht nur bei denjenigen, die einen festen Beruf haben, die Arbeitsstruktur. Es entsteht eine größere Belastung, höherer Zeitdruck, und die Grenzen zwischen Freizeit und Beruf heben sich auf. Es werden ganz neue Berufe geschaffen, die im Netz arbeiten und besonders gefährdet sind. Das sind die sogenannten prekären Arbeitsverhältnisse oder Arbeitsplatzsituationen.

Prof. Dr. Peter Falkai
Peter Falkai ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. privat

F&L: Welche psychischen Erkrankungen können Folge dieser Belastungen sein?

Peter Falkai: Alle psychischen Erkrankungen können als Folge vorkommen. Aber es gibt eine bestimmte Gruppe von Erkrankungen, die sogenannten affektiven Erkrankungen, die offensichtlich durch gestörte Stressverarbeitungsmechanismen ausgelöst werden. Man muss sich das so vorstellen: Bei großer Freude oder starker Belastung werden in der Nebenniere Stresshormone freigesetzt. Der Blutdruck, die Durchblutung, das gesamte Aktivitätsniveau wird gesteigert. Das ist völlig normal. Wenn der Stress weg ist, fallen auch die Stresshormone ab und alles normalisiert sich. Aber wenn der Stress chronisch ist, wenn die Arbeitsbelastung nie vernünftig nachlässt, dann bleibt der Stresslevel hoch. Sinkt der Cortisolspiegel nicht, weil die molekularen Mechanismen der Stressnormalisierung nicht funktionieren, kommt es zu Schlafstörungen, innerer Unruhe und Ängstlichkeit. Dieses Prodrom, das üblicherweise als Burn­out bezeichnet wird, kann sich dann zu einer manifesten psychischen Erkrankung entwickeln. Dazu gehören in erster Linie Depression, Angsterkrankung oder somatoforme Störungen (Beschwerden ohne erkennbare organische Ursache).

"Wir wissen, dass Wissenschaftler – je nachdem in welcher Phase ihrer Entwicklung sie sich befinden – einem besonderen Druck ausgesetzt sind."

F&L: Inwieweit sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon betroffen?

Peter Falkai: Wir wissen, dass sie – je nachdem in welcher Phase ihrer Entwicklung sie sich befinden – einem besonderen Druck ausgesetzt sind, zum Beispiel im Rahmen ihrer Promotion oder in der Postdoc-Phase durch den Publikations- und Erfolgsdruck. Sehr viel hängt auch von der Stellensituation ab. Wenn sechs Postdocs in einem Labor forschen und es maximal ein bis zwei Stellen gibt, führt die Konkurrenzsituation schon zu maximalem Druck. Ganz wichtig ist zu wissen, dass nicht jeder Mensch erkrankt. Verdeutlichen kann man dies am Beispiel des Sonnenbrands. Eine helle Haut erhöht die Wahrscheinlichkeit, Sonnenbrand zu bekommen. Aber ohne Sonne entsteht auch kein Sonnenbrand. So ist es auch bei den stress­asso­zi­ier­ten Erkrankungen. Auf der einen Seite gibt es die schwierige psychosoziale Situation, Druckmomente am Arbeitsplatz – da spielen natürlich auch private Dinge eine Rolle, das Gehirn differenziert nicht zwischen privaten oder beruflichen Stressoren – auf der anderen Seite haben etwa fünf Prozent der Bevölkerung eine Empfindlichkeit, eine Vulnerabilität für eine Depression und weitere fünf bis zehn Prozent für eine Angsterkrankung. Kommt beides zusammen, können psychische Störungen auftreten und in gewissen Phasen auch gehäuft. Das ist bei Wissenschaftlern nicht anders als beim Rest der Bevölkerung.

F&L: Auch wenn Wissenschaftler eher selbstbestimmt arbeiten?

Peter Falkai: Durch die Selbstbestimmtheit haben sie bessere Kompensationsmechanismen, aber in gewissen Phasen können sie dem Stress auch nicht entgehen, zum Beispiel während des Karriereaufbaus oder in Bewerbungsphasen. Aber selbst wenn sie eine Stelle haben, müssen sie dort auch bestehen. Man darf den Begriff der Selbstausbeutung nicht vergessen. Wenn man eine gute Stelle hat, erwartet man von sich selbst, viel zu publizieren oder hohe Drittmittel einzuwerben.

F&L: Was können Universitäten tun, um potenzielle Stressoren zu reduzieren?

Peter Falkai: Es gibt zwei wichtige Felder. Zum einen muss den jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine bessere Planbarkeit vermittelt werden. Ihnen muss aufgezeigt werden, ob gegebenenfalls eine Stelle zur Verfügung steht oder ob nach der Qualifikationsphase wahrscheinlich keine Stelle angeboten werden kann. Das ist immer noch besser, als wenn man ihnen Hoffnung macht, die dann enttäuscht wird. Das zweite ist, dass man eine effektive psychosoziale Beratung braucht. Wenn es den Leuten schlecht geht, wenn sie Schlafstörungen haben, Ängste entwickeln oder Konzentrationsstörungen dazukommen, müssen sie einen schnellen und unbürokratischen Weg zu einer Diagnose und einer Therapie finden können. Das große Problem ist häufig, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zwar die Beschwerden haben, aber nicht wissen, wie sie damit umgehen können. Es darf nicht vergessen werden, dass psychische Erkrankungen ein hohes Stigma haben. Viele Kollegen wollen eine beginnende Depression nicht wahrhaben. Eine Universität muss als Arbeitgeber klar signalisieren, dass Mitarbeiter mit Symptomen eines Burnouts frühzeitig den Betriebsarzt aufsuchen sollten. Selbstverständlich muss dann zeitnah geholfen werden und zwar pragmatisch und unstigmatisiert. Es spielt keine Rolle, ob jemand Diabetes hat oder Bluthochdruck, psychische Erkrankungen sind  ebenso klar diagnostizierbar und behandelbar.

F&L: Gibt es Alarmzeichen für eine beginnende psychische Störung?

Peter Falkai: Ja, aber Betroffene überhören sie häufig oder möchten sie überhören. Sie halten erste Anzeichen für vorübergehend und meinen, wenn der Artikel erstmal fertig ist oder der Antrag gestellt, dann werde alles wieder in Ordnung sein. Und sie fahren vielleicht eine Woche in den Urlaub und entspannen sich, und wenn sie zurückkommen, hat sich nichts verändert, es geht ihnen weiter schlecht. Dann müssen sie sagen können, ja, wahrscheinlich habe ich ein Burnout oder eine beginnende Depression. Damit gehe ich zum Arzt und werde deswegen krankgeschrieben. Ich werde behandelt und bekomme eine Verhaltenstherapie und vielleicht ein Antidepressivum. Das muss möglich sein. Das ist aber leider häufig nicht der Fall – auch wenn sich die Situation seit dem Tod von Betroffenen wie zum Beispiel Robert Enke, schon gebessert hat.

F&L: Wie kann eine Wiedereingliederung in das berufliche Umfeld gelingen?

Peter Falkai: Mit der Wiedereingliederung haben Sie einen wunden Punkt angesprochen. Die Arbeitsunfähigkeitszeiten zum Beispiel beim Burnout sind sehr lang. Die Betroffenen gehen zum Hausarzt, der nichts Somatisches findet. Wenn keine Besserung eintritt, folgt eine Krankschreibung nach der anderen, und die Patienten sind schnell vier oder sechs Wochen krankgeschrieben, anstatt frühzeitig von einem Facharzt behandelt zu werden. Die meisten Betroffenen wollen das auch, aber sie müssen dabei gut geführt werden, und es muss einen guten Service geben. 75 Prozent der Patienten mit einer Erstmanifestation einer Depression werden durch die Therapien eine deutliche Verbesserung bis hin zur kompletten Rückbildung erreichen. Etwa die Hälfte der Patienten wird gesund – nicht geheilt, denn die Depression kann wiederkommen. Ein Drittel wird eine längere Zeit brauchen, bis sie sich erholen. Es gibt natürlich auch einen Teil an Patienten, der sich mit der Erkrankung schwerer tut. Ich würde immer davon ausgehen, dass zwei Drittel sehr gut von den etablierten Therapien profitieren. Durch eine Therapie werden sich die Betroffenen im positiven Sinne weiterentwickeln. Sie werden Antennen dafür bekommen, wie sie mit Stressoren umgehen können und was sie selbst in ihrem Leben ändern müssen. Damit sich am Arbeitsplatz etwas ändern kann, müssen die Arbeitnehmer bereit sein, ihre Situation kritisch zu reflektieren und die Gesamtkonstellation zu betrachten, zu der eventuell auch ein Ehekonflikt oder Schulden gehören. Sie müssen das Problem auch ansprechen und dafür sorgen, dass es wahrgenommen wird, und zwar nicht als querulantisch oder unsinnig. Wenn der Arbeitgeber das Problem ernstnimmt, ist schon viel gewonnen. Das heißt konkret: Wenn jemand aus einer Arbeitsgruppe einen Termin bei mir braucht, dann muss er auch innerhalb von 48 Stunden einen Termin bekommen. Das geht auch, wenn man das will. Ein Arbeitgeber sollte erreichbar und grundsätzlich bereit sein, auf seine Mitarbeiter und Kollegen zuzugehen. Es geht hier um Wertschätzung. Entscheidend ist eine vernünftige und faire Interaktion zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber.