Interview mit Psychotherapeut Hans-Werner Rückert
Wenn die Dissertation an der Psyche nagt
Forschung & Lehre: Herr Rückert, eine Dissertation ist herausfordernd. Über mehrere Jahre ist eine Menge eigenverantwortliches Zeitmanagement und Durchhaltevermögen gefragt. Sie haben 23 Jahre die Studienberatung und die Psychologische Beratungsstelle an der FU Berlin geleitet – welche Probleme sind es genau, mit denen Doktorandinnen und Doktoranden zu Ihnen gekommen sind?
Hans-Werner Rückert: Dabei muss ich unterscheiden zwischen vordergründigen und hintergründigen Motiven. Vordergründig klagen Doktorandinnen und Doktoranden häufig darüber, dass ihnen die richtigen Arbeitstechniken für die Bearbeitung ihrer Dissertation fehlen, dass sie Motivationsprobleme haben und Aufgaben vor sich herschieben. Hintergründig ist es dann aber vielleicht der eigene Narzissmus, der ihnen in die Quere kommt. Man ist nicht dabei, pragmatisch eine Promotion abzuliefern, sondern will „das beste Werk aller Zeiten“ schreiben, das die Welt revolutionieren soll. Das kann natürlich nur zu psychischen Belastungen führen. Auch erkenne ich bei einigen Doktorandinnen und Doktoranden im Gespräch, dass die Konkurrenz mit anderen Nachwuchswissenschaftlern ihre Arbeit behindert oder sie Druck aus dem Elternhaus erfahren. Teils ist dies bei promovierten Eltern der Fall, während andere eine gute Unterstützung sind.
"Es macht einen großen Unterschied, ob mich ein intrinsisches Interesse an der Promotion treibt, oder ob andere mir hierzu geraten haben."
F&L: Schauen wir zunächst auf die Schwierigkeiten, die bei einer Person selbst liegen, zum Beispiel die fehlenden Arbeitstechniken. Woran mangelt es hier und wie können sich Promovierende helfen?
Hans-Werner Rückert: Nun, wenn man im bisherigen Studium nicht gelernt hat, handwerklich korrekt und effizient zu arbeiten, ist das schon einmal ein Nachteil. Je nach Fach ist die Beherrschung der basalen Arbeitstechniken wie Durchführung von Laborversuchen oder Literaturrecherchen und Auswertung von Daten eine Voraussetzung für eine gelingende Promotionsphase. Gute Zeit- und Selbstmanagementtechniken kann man vergleichsweise leichter erlernen, durch Teilnahme an entsprechenden Kursen oder durch Bücher, die einem diese Techniken vermitteln.
F&L: Welche Ratschläge geben Sie, um in der Promotionszeit motiviert zu bleiben und Aufgaben nicht unnötig aufzuschieben?
Hans-Werner Rückert: Dreh- und Angelpunkt ist die Motivation, der Grund also, weshalb ich promoviere. Es macht einen großen Unterschied, ob mich ein intrinsisches Interesse an der Promotion treibt, oder ob Professorinnen und Professoren oder andere mir hierzu geraten haben, beziehungsweise ich meine Adoleszenz einfach noch etwas verlängern möchte, aber mich die anstehende Arbeit nicht wirklich interessiert. Dann wird es schnell belastend, sobald ich etwas produzieren muss. Ein intrinsisches Interesse besteht in der Faszination von meinem Fach und der Begeisterung für die Fragestellung. Aber natürlich kann ich auch durch ein berufliches Ziel, das ich mit der Promotion verfolge, Motivation erzeugen. In schwierigen Phasen der Promotion kann ich mir dieses Ziel immer wieder vor Augen führen. Grenzwertig sind die scheinbar alternativlosen Wege: Wenn ich zum Beispiel Chemie studiert habe und einen anspruchsvollen Job anstrebe, weiß ich, dass ich keine andere Wahl habe, als zu promovieren. Das kann motivieren, aber es kann auch zur Hürde werden, da meine persönliche Entscheidungsfreiheit eingeschränkt erscheint.
F&L: Das Ziel ist zunächst sehr weit weg – wie wichtig sind selbst gesteckte Zwischenziele, um den Weg zu erleichtern? Wie sollten diese aussehen?
Hans-Werner Rückert: Zwischenziele ergeben sich aus den Phasen, in die sich das Promotionsprojekt in der Regel gliedert, also beispielweise das Exposé, die Recherche des bisherigen Forschungsstandes, die Auswahl der Methoden, die Entwicklung eines Untersuchungsdesigns, die Etappen der Durchführung und so weiter. Hohe Berge wie den Mount Everest besteigt man nicht, ohne Zwischenlager angelegt zu haben. Und das Erreichen von Zwischenzielen kann gefeiert werden!
F&L: Wie sieht es mit negativen Einflüssen von außen aus – wie schaffe ich es als Promovend oder Promovendin, mich nicht unter Druck setzen oder verunsichern zu lassen, sondern mich auf meine Arbeit zu konzentrieren?
Hans-Werner Rückert: Das kommt darauf an, wie sehr negative Einflüsse, also beispielsweise Unverständnis in der Familie oder Kritik aus dem Freundeskreis, in dem die anderen nicht promovieren, sondern bereits Geld verdienen, innerlich auf Resonanz stoßen. Belastend ist es vor allem dann, wenn andere das aussprechen, was ich mir selbst nicht eingestehen will, also beispielsweise die Frage aufwerfen, was denn nach der Promotion kommen soll. Sobald sich Druck aufbaut, wird es wichtig, ihm mit einer vernünftigen "Life-Work-Balance" zu begegnen, aber auch das Gespräch zu suchen mit Menschen, denen man vertraut.
F&L: Wie häufig ist das Betreuungsverhältnis der Grund für Belastungen in der Promotionsphase?
Hans-Werner Rückert: Das ist in der Hälfte der Beratungen ein Thema. Wenn es nicht von Promovierenden genannt wird, ist man gut beraten danach zu fragen, weil speziell in Deutschland und vor allem bei der Individualpromotion oft ein "Gefolgschaftsverhältnis" besteht. Meinungsverschiedenheiten zwischen "Doktorvater" oder "Doktormutter" – die Familienmetapher ist ja schon bezeichnend genug! – und Promovend oder Promovendin können schnell zu persönlichen Kränkungen und Beziehungskrisen führen. Auch Enttäuschungen sind ein Problem: Promovierende haben überzogene Erwartungen an das Betreuungsverhältnis oder Betreuende sind überzeugt, dass sie einen Spitzenjob machen, tun aber tatsächlich zu wenig.
"Es sind die Mittdreißiger, die sich fragen: 'Hat sich das Ganze überhaupt gelohnt oder war es ein Schuss in den Ofen?'"
F&L: Haben die Promovierenden ihr Problem in der Regel schon erkannt, bevor sie zu Ihnen kommen?
Hans-Werner Rückert: Die Fähigkeit, sich selbst hinters Licht zu führen, ist bei allen Menschen unbegrenzt. Wir denken "das ist der Grund", und in Wirklichkeit ist es etwas anders. Um sich selber zu sehen braucht man manchmal schon einen Spiegel. Da sind Promovierenden-Netzwerke, Graduiertenkollegs oder auch die Gespräche mit Freunden, denen man vertraut, oder mit Familienangehörigen hilfreich. Es können natürlich auch die Betreuer selber sein, oder eben die Beratungsstellen an der Universität. Wichtig ist, dass man sich austauscht und auf Gedanken kommt, die man selbst noch nicht hatte.
F&L: Wie gehe ich möglichst gefestigt in die Promotionsphase, damit es erst gar nicht zu Problemen kommt?
Hans-Werner Rückert: Nach meiner Erfahrung ist da allgemeingültig überhaupt kaum etwas zu sagen. Die Promotion ist eine hochindividuelle Angelegenheit. Die allgemeinste Empfehlung wäre wohl, dass man sich auf Schwierigkeiten einrichtet. Das beginnt schon damit, dass die wenigsten eine klare Fragestellung haben. Das gehört zur ersten Promotionsphase hinzu. Man erstellt sie, schärft sie aus, macht sie handhabbar. Oft ist das dann schon ein Prozess der Enttäuschung, weil die Dinge, die man sich vorgestellt hat, viel attraktiver schienen als das, was am Ende als operationalisierte Fragestellung übrig bleibt. Das muss man auch erst mal verkraften. Es gibt auch soziale Kosten: Man startet in eine Phase, in der Freundinnen und Freunde feiern gehen und man selber am nächsten Morgen früh in die Bibliothek oder ins Labor muss. In der Partnerschaft kann es Probleme geben, weil man sich drei oder vier Jahre mehr oder weniger dem partnerschaftlichen Leben entzieht oder auch entziehen muss. Jemandem, der vorhat zu promovieren, empfehle ich daher, auf einigen Seiten aufzuschreiben, warum er oder sie promovieren will und was er oder sie glaubt, was am Ende dabei raus kommt. Gelesen zu haben, dass Promovierte in ihrem Leben X Euro mehr verdienen, kann nichts werden. Das ist zu fremd und beliebig.
F&L: Haben promovierende Frauen andere Probleme als promovierende Männer?
Hans-Werner Rückert: Das sind die generellen Unterschiede, die man im Wissenschaftsbetrieb immer findet: Dass sich Frauen grundsätzlich erst einmal zweifelnder und selbstkritischer – auch überzogen kritischer – gegenüberstehen als Männer, ähnlich wie im Vorstellungsgespräch. Frauen stellen in Aussicht, dass sie einen Job vielleicht machen können, Männer signalisieren "Ich bin der Beste, den Sie kriegen können". Vergleichbar treten in den Graduiertenkollegs Männer meist entschlossen auf, während Frauen sich mehr Sorgen über die wissenschaftliche Qualität ihrer Arbeit machen und sich leichter verunsichern lassen.
F&L: Wie haben sich die Probleme der Promovierenden in den vergangenen Jahren verändert?
Hans-Werner Rückert: Das Ziel der Promotion ist zunächst einmal durch Programme wie den Hochschulpakt, durch den viel Geld in die Universitäten gegangen ist, finanziell leichter erreichbar geworden. Die Existenzfragen tauchen jetzt nach der Promotion auf: Wenn ich zwölf Jahre in der Wissenschaft war und klar wird, dass ich dort keine Zukunft habe und auf dem Arbeitsmarkt mit dem konkurriere, der schon Jahre in einer Behörde oder einer Firma gelernt hat. Es sind die Mittdreißiger, die sich fragen: "Hat sich das Ganze überhaupt gelohnt oder war es ein Schuss in den Ofen?" Die alltäglichen Schwierigkeiten während der Promotion sind dieselben.
Promotionen an deutschen Hochschulen – Zahlen und Fakten
Auf diesem Weg spielen laut Anja Franz natürlich auch Probleme bei der Bearbeitung der Arbeit eine zentrale Rolle: "beispielsweise Detailverlorenheit oder in den Naturwissenschaften Laborexperimente, die nicht funktionieren". Die wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Internationale und Interkulturelle Bildungsforschung stützt sich auf offene Interviews mit 16 ehemaligen Promovierenden.
F&L: Wie unterscheidet sich die Belastung von Doktorandinnen und Doktoranden zwischen unterschiedlichen Promotionsformen?
Hans-Werner Rückert: In den Graduiertenkollegs empfinden Promovierende den größten Druck. Das Konkurrenzverhältnis wird stärker erlebt als etwa bei der Individualpromotion. Da ist es allerdings die Einsamkeit, die belastet. Entspannter geht es bei den kumulativen Promotionen zu, aber da hat man das Problem, dass die Veröffentlichungen oft ein schlechteres Standing haben als die große Monografie. In den Sozialwissenschaften ist es zum Beispiel immer noch das Buch, das zählt. In den Naturwissenschaften sind Paper die dominierende Publikationsform und damit ist auch die Kumulativ-Promotion anerkannter.
F&L: Oft kommt der Schlag auch nach Abschluss der Promotion. Die Arbeit ist abgegeben, es entsteht ein "Loch". Wie gehe ich damit am besten um?
Hans-Werner Rückert: Wenn man sich vorher kundig macht, weiß man, dass man sich nach einer Promotion fühlt wie die Menschen, die den Mount Everest bestiegen haben. Wenn sie runterkommen, sind sie depressiv. Man ist ausgepumpt und erledigt. Auch nach der langen Marathonstrecke der Promotion fallen viele in ein depressives Loch, von dem sie nicht gedacht haben, dass es da ist. Es ist kein Beinbruch, sondern eine ganz normale organische Reaktion nach der langen Anstrengung. Jetzt ist zwar der Erfolg da, aber dieser ist zu einem großen Anteil ja auch nur ein imaginärer Erfolg. Hierauf sollte man sich frühzeitig vorbereiten. Auch sollte man die Möglichkeit des Scheiterns einkalkulieren. Das ist kein Beinbruch. Es ist ein Reifungsschritt, wenn ich irgendwann im Laufe des Prozesses merken sollte, das ist nichts für mich, und ich möchte lieber etwas anderes machen. Die Welt ist voller Leute, die eine Dissertation seit 20 Jahren in der Schublade haben.
F&L: Hilft es, mir frühzeitig neue Aufgaben für die Zeit nach der Promotion zu suchen?
Hans-Werner Rückert: Es ist gewiss sinnvoll, sich zu überlegen, wie es nach der Promotion weitergehen soll. Dabei ist die zeitliche Perspektive wichtig: Sich atemlos sofort in die nächste Aufgabe zu stürzen, kann sowohl die Freude über das Erreichte behindern, als auch das gewissermaßen physiologische "Runterkommen" nach der langen Zeit fokussierter Arbeit unterbinden. Sinnvoller erscheint es mir, sich eine Erholungspause zu gönnen und den Blick über die Phase des Abschwungs, des seelischen Auslaufens, gelassen auf das zu richten, was als nächstes kommen könnte.
F&L: Psychische Belastungen und diagnostizierte Depressionen rücken immer mehr in die öffentliche Diskussion. Halten Sie dies für eine positive Entwicklung oder gibt es Promovierenden unbewusst mit auf den Weg, dass es ihnen schlecht zu gehen habe, was sich dann gemäß der selbsterfüllenden Prophezeihung teils bewahrheitet?
Hans-Werner Rückert: Nein, grundsätzlich sind Depressionen so stark tabuisiert gewesen, dass mir die offene Diskussion sehr willkommen ist. Wir sehen durchaus Leute, die sich ein Etikett aufkleben, aber es ist mir lieber so jemand kommt und wir kommen zusammen zu der Überzeugung, dass es kein Burn-out ist, sondern vielleicht Lustlosigkeit, als dass er oder sie nicht kommt und an einer Promotion zerbricht. Schlechter ist, wenn jemand negative Gefühle möglichst schnell beiseite schiebt und die Illusion verbreitet, dass man promoviert und von morgens bis abends glücklich ist und sich mit wunderbaren Themen beschäftigen darf.
Aus Forschung & Lehre 4/18
Titelthema "Promotion"
- Dr. Ulrich Rasche: Wissenschaft, Praxis und Prestige – Zur Geschichte von Dissertation und Promotion
- Prof. Dr. Roy Sommer: "Man muss nicht überall dabei sein..." – Die Rolle des wissenschaftlichen Netzwerkens während und nach der Promotion
- Dr. Eva Bosbach: Doktorgrad Ph.D.– Promovieren in den USA
- Prof. Dr. Edmund Brandt: Kennzeichen "Abhängigkeit" – Zum Betreuungsverhältnis während der Promotion
- Kolja Briedis: Karriere mit Promotion – Zur Situation Promovierter innerhalb und außerhalb der Wissenschaft
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