Universitaet Potsdam, Campus Griebnitzsee
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Studium und Corona
"Mir fehlt ein echtes Studentenleben"

Studierende müssen während der Pandemie auf vieles verzichten, was zuvor ein Studium geprägt und attraktiv gemacht hat. Eindrücke eines Studenten.

Von Vera Müller 17.03.2021

Forschung & Lehre: Sie haben an der Universität Potsdam Ihr Bachelorstudium im Regellehrbetrieb begonnen und beenden es nun unter Pandemie-Bedingungen. Wie groß sind die psychischen Belastungen für Studierende in der Corona-Pandemie?

Willi Stieger: Vieler meiner Kommilitoninnen und Kommilitonen leiden unter den Einschränkungen der Corona-Pandemie. Wie ich sitzen viele von morgens bis abends vor dem Bildschirm. Es fehlt der Ausgleich, manchmal möchte ich den Computer wirklich an die Wand werfen. Ich war sowohl im Fußballverein als auch hochschulpolitisch aktiv – das gilt auch für meinen Freundeskreis. Das Vereinsleben und der Ehrenamtsbereich sind komplett weggebrochen. Das schlägt vielen, auch mir, aufs Gemüt und auf die psychische Verfassung.

Portraitfoto von Willi Stieger
Willi Stieger studiert Interdisziplinäre Russlandstudien an der Universität Potsdam. privat

F&L: Was fehlt Ihnen am meisten?

Willi Stieger: Mir fehlt ein echtes Studentenleben. Damit meine ich den Austausch mit den Kommilitoninnen und Kommilitonen, den Dozierenden, gemeinsam kulturelle Veranstaltungen besuchen, sich mit Freunden treffen, das Vereinsleben, all das, was ich mit meinem Studentenleben in meinen ersten Semestern verbunden habe. Ein Studium ist sehr prägend für die persönliche Entwicklung, während dieser Zeit erarbeitet man sich ein Persönlichkeitsprofil. Man engagiert sich, man lernt Menschen kennen, baut sich ein Netzwerk auf und das ist sehr wichtig – zusätzlich zum Fachlichen. Aber auch die fachlichen Aspekte leiden darunter. Mein Studiengang ist zum Beispiel sehr klein, in den Seminaren gibt es höchstens 20 Studierende. Da ist sozialer Austausch von großer Bedeutung. Für mich war der Lerneffekt am größten, wenn ich nach der Vorlesung noch mit dem Dozenten in der Cafeteria zusammensaß oder wenn wir auf dem Campus nach den Veranstaltungen noch gemeinsam diskutiert haben.

F&L: Hat sich in Ihrer Einstellung zum Digitalen in der Corona-Pandemie etwas verändert?

Willi Stieger: Ich hätte nie gedacht, dass Veranstaltungen online so gut funktionieren könnten. Andererseits haben wir in Deutschland massive Probleme mit der Digitalisierung. In unserem Wohnheim fällt sehr oft das Internet aus – und das in einem digitalen Onlinesemester. Vor wenigen Tagen hatte ich meine letzte Prüfung und meine größte Angst war, dass das Internet während der Prüfung zusammenbricht. Ich verstehe nicht, warum wir im Zentrum von Potsdam keine anständige Internetverbindung haben.

F&L: Was passiert, wenn während der digitalen Prüfung das Internet streikt?

Willi Stieger: Mittlerweile werden für diesen Fall Lösungen gesucht und auch gefunden. Bei jeder Klausur ist ein technischer Betreuer anwesend. Im Rahmen seiner Einleitung erhalten wir eine technische Notfallnummer. Sollte während der Prüfung unerwartet das Internet nicht funktionieren, schreibt man sofort eine Nachricht im Chat oder ruft den technischen Betreuer direkt an. Er stoppt dann die Zeit, holt den Studierenden wieder zurück ins Netz und gibt die entsprechend ausgefallene Zeit dazu.

F&L: Wie hat man sich Ihren Studentenalltag vorzustellen? Wie organisieren Sie sich?

Willi Stieger: Zu Anfang der Corona-Pandemie war es schwierig für mich, mich zu organisieren, mittlerweile habe ich ein besseres Zeitmanagement entwickelt. Ich beginne meistens um acht Uhr morgens und arbeite bis mittags. Dann mache ich eine Pause und gehe eine große Runde spazieren. Danach sitze ich meistens noch einmal von 14 bis 18 Uhr vor dem Laptop.

"Zu manchen Lehrkräften hat man überhaupt keinen Kontakt und es fehlt auch das Feedback."


F&L: Wie gut funktioniert das Lernen in der Online-Lehre?

Willi Stieger: Viele Dozierende nutzen alle zur Verfügung stehenden Online-Formate und haben hervorragende Veranstaltungen auf die Beine gestellt. In vielen Seminaren läuft es sehr gut, es entstehen Diskussionen und Dozierende und Studierende arbeiten wirklich zusammen. Es gibt aber auch Online-Seminare, die ganz schlecht laufen. Zu manchen Lehrkräften hat man überhaupt keinen Kontakt und es fehlt auch das Feedback. Es schwankt also. Schwer tue ich mich mit Vorlesungen, die nur vertont hochgeladen werden. Meines Erachtens sollten Online-Vorlesungen – auch mit vielen Teilnehmenden – über ZOOM oder über eine Plattform angeboten werden. Dann sehen die Studierenden den Dozenten wenigstens und haben auch die Möglichkeit, direkt Fragen zu stellen. An der Universität Potsdam werden die Folien oft ausschließlich vertont hochgeladen. Fragen sind dann nur über ein Forum möglich. Das ist schade, denn oft erzeugt eine Frage eines Studierenden eine Gegenfrage und daraus kann eine sehr fruchtbare Diskussion entstehen. Das geht im Chat verloren. Digitale Vorlesungen sollten meiner Meinung nach synchron vonstatten gehen. Bei Seminaren habe ich interessante Formate kennengelernt wie zum Beispiel Breakout-Sessions (kurze Sitzungen mit einer kleinen Gruppe von Teilnehmenden, die bestimmte Aspekte eines großen Themas einer Veranstaltung diskutieren) mit intensiven Diskussionen. Aber auch hier hängt viel von der jeweiligen Moderation und von der aktiven Beteiligung der Studierenden ab. Trotzdem würde ich bei Seminaren in Zukunft immer das Persönliche bevorzugen. Das Digitale bedeutet eine zusätzliche Barriere.

F&L: Sie werden Ihre Bachelorarbeit an der Universität Ljubljana in Slowenien schreiben. Wie schwierig war die Planung Ihres Auslandsaufenthalts vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie?

Willi Stieger: In meinem Bachelorstudium sind ein Auslandsstudium und ein Auslandspraktikum vorgeschrieben. Das Auslandsstudium habe ich in St. Petersburg komplett absolviert. Das Praktikum in Moskau musste ich dann wegen Corona abbrechen. Ich weiß also, wie schön ein Auslandsstudium beziehunsweise -praktikum sein kann. Ich hatte bereits vor längerer Zeit geplant, meine Bachelorarbeit dieses Semester an der Universität Ljubljana zu schreiben. Lange Zeit war ungewiss, ob das unter Corona-Bedingungen funktioniert. Ich wusste bis vor einem Monat nicht, ob ich nach Slowenien fahren kann und ob die Finanzierung gesichert ist. Ich lebte mit großen Ungewissheiten. Trotzdem habe ich mein Thema geplant und Kooperationspartner gesucht. Glücklicherweise hat es funktioniert, inzwischen bin ich in Slowenien. Ich bleibe dort bis Juli und möchte danach noch durch den Balkan reisen, wenn die aktuelle Situation es zulässt.

F&L: Haben Sie Zukunftsängste?

Willi Stieger: Die Frage stellt sich mir inzwischen häufiger. Ich befinde mich im Vergleich zu anderen Kommilitoninnen und Kommilitonen in einer relativ glücklichen Situation. Ich musste zwar länger studieren, aber das stand indirekt auch schon vorher fest. Ich habe es mir zwar anders vorgestellt, aber ich denke, dass ich außer diesem zusätzlichen Semester keine großen Ängste haben muss. Natürlich kommt es darauf an, wie später der Übergang in den Master funktioniert. Aber ich habe Kommilitonen, die das anders sehen. Sie haben zum Beispiel ihren Master im April 2020 angefangen und kommen jetzt ins dritte Semester. Der Master umfasst vier Semester und am Ende schreibt man seine Masterarbeit. Man hat sich also für einen "normalen" Master beworben und hat nur Online-Lehre erhalten. Viele fragen und sorgen sich, wie konkurrenzfähig der Online-Master ist, denn die Generation vor uns und nach uns hat diese Probleme nicht.

F&L: Wenn Sie sich die Gesellschaft und die Probleme in der Corona-Zeit insgesamt anschauen: Haben Sie den Eindruck, die Lasten sind fair verteilt?

Willi Stieger: Ich bin da persönlich sehr gespalten. Von der Solidarität in der Gesellschaft – vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie – bin ich begeistert. Die sollten wir auch mitnehmen in die Zukunft. Was die Last angeht, bin ich sehr enttäuscht. Wir nehmen enorm viele Schulden auf und verteilen das Geld nach dem Gießkannenprinzip. Letztendlich muss meine Generation das zurückzahlen.
Da das Virus altersdiskriminierend ist – das zeigen die Statistiken – ist es eine große Aufgabe, besonders die Risikogruppe zu schützen. Das ist uns aber nicht besonders gut gelungen. Viele Menschen in Altersheimen sind wegen Covid-19 gestorben und ich frage mich, warum wir es bis heute nicht schaffen, diese Menschen anständig zu schützen. Ich verstehe auch nicht, warum wir unsere Schulen nicht zeitgemäß digital ausstatten. Das lässt sogar jemanden wie mich, der die gesamte Zeit der Corona-Pandemie hinter den getroffenen Maßnahmen stand, skeptisch werden. Diese Skepsis erlebe ich inzwischen auch bei meinen Kommilitonen und Freunden. Es setzt ein Frustgefühl ein. Wir haben in Deutschland zu Beginn der Corona-Krise sehr gut reagiert, aber als es darum ging, diese Krise zu managen, haben wir wichtige Dinge im Sommer 2020 verschlafen, zum Beispiel FFP2-Masken für alle zur Verfügung zu stellen und die Altersheime zu schützen.

"Es setzt ein Frustgefühl ein."

Wir jungen Menschen mussten und müssen verzichten und Solidarität zeigen und an ganz vielen anderen Stellen hapert es. Die Folgen und Lasten dieser Versäumnisse werden vor allem wir tragen müssen. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, mein Vater ist KFZ-Mechaniker und meine Mutter Fleischfachverkäuferin, für mich war es schwierig, mit diesem Studium beginnen zu können. Wenn ich jetzt sehe, was die Corona-Pandemie auch in der Bildungsgerechtigkeit anrichtet, dann geht mir das sehr nah. Die Bildungsungerechtigkeit zieht sich durch die Gesellschaft und dafür müssen wir eine Lösung finden – neben all den psychischen Problemen, die die Gesellschaft insgesamt, aber auch die Studierenden, durch die Corona-Krise aushalten müssen. Einsamkeit kann jeden treffen, gerade in einer Corona-Pandemie, und ich hoffe, dass wir bald wieder zu einem normaleren Leben zurückkehren und die positiven Seiten der Corona-Pandemie in die Zukunft mitnehmen können.