Studentin am heimischen Schreibtisch lernt mit Laptop, Büchern und Notizen
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Didaktik
Dozenten sollten Lernziele in der digitalen Lehre überdenken

Dozenten wollen Kompetenzen vermitteln, Studierende lernen für die Prüfung. Wie hat Corona dieses Spannungsverhältnis beeinflusst?

Von Claudia Krapp 05.03.2021

Forschung & Lehre: Frau Professorin Frenzel, Sie sagen, die Hochschullehre und die Prüfungen passen derzeit nicht gut zusammen? Warum ist das so?

Anne Frenzel: Auch wenn der Mensch im Idealfall aus intrinsischer Motivation und für das Leben lernt, bleibt das oberstes Ziel der Studierenden, die Prüfungen erfolgreich zu bestehen. Sie sind darauf konditioniert und auf kluge Weise an das deutsche Lehrsystem angepasst, die Lehrinhalte daraufhin zu sichten und zu selektieren, welches Wissen in den Prüfungen abgefragt wird. Die Dozierenden wollen in der Lehre in der Regel zunächst Kompetenzen und Transferfähigkeit vermitteln und bauen die Inhalte entsprechend didaktisch aufeinander auf. Dabei vergessen die Lehrenden oft den pragmatischen Ansatz der Studierenden und betrachten ihre Pflicht zur Prüfung entkoppelt oder nachgelagert von der Lehre. Sie lehren also zum Beispiel in Diskurs-Formaten den inhaltlichen Austausch über ein Thema und stehen anschließend vor dem Problem, ein gutes diagnostisches Abbild des vermittelten Wissens in die Prüfungen zu packen. Und weil es viele Prüfungsordnungen so vorsehen oder weil Massenprüfungen anders nicht bewältigbar sind, fallen dann viele Dozierende auf Multiple-Choice-Prüfungen zurück. Darin fragen sie reines Faktenwissen ab, welches wenig mit den angestrebten Kompetenzen und der Fähigkeit zum Transfer zu tun hat.

Professorin Anne Frenzel ist Studiendekanin der Fakultät für Psychologie und Pädagogik sowie Direktorin des Masterprogramms "Psychology: Learning Sciences" an der LMU München. Edward Strohmeyer

F&L: Wie beurteilen sie die Passung von Lehre und Prüfung während der digitalen Corona-Semester?

Anne Frenzel: Die Interessen und die Motivation der Studierenden und Lehrenden haben bezüglich der Lehre schon immer auseinander geklafft. Über die Zeit ist aus der Erfahrung und Ernüchterung jedoch trotzdem eine gewisse Passung entstanden, bei der sich beide Seiten auf ein Maß an Wissensvermittlung und –abfrage geeinigt haben. Das war vielleicht nicht besonders schön und befriedigend, aber es hat funktioniert. Mit der Corona-Pandemie und der digitalen Lehre ist diese Balance zwangsläufig aus dem Gleichgewicht geraten. Die digitalen Prüfungen haben zunächst keinerlei Überwachung der Studierenden erlaubt und waren damit nicht betrugssicher. Während der Corona-Semester mussten die Prüfungen daher kurzfristig umgestellt werden, um nicht nur leicht nachzuschlagendes Faktenwissen abzufragen, sondern Verständnis, Transferwissen und Kompetenzen. Bei diesen Prüfungsformaten entfällt die Notwendigkeit der Überwachung. Gleichzeitig haben sich die Lehrformate digitalisiert – ironischerweise eher in Richtung Wissensvermittlung, insbesondere bei rein asynchron aufgezeichneten Vorlesungen. So hat sich das Problem umgedreht: Digital wird umso mehr reines Faktenwissen vermittelt, die Prüfung ist aber plötzlich stärker transferorientiert. Lehrende sind bei den neuen Lehr- und Prüfungsformaten gewissermaßen in eine alte Falle getappt und haben Lehre und Prüfung separat geplant, obwohl es nun noch wichtiger wäre als zuvor, alles in einem Schritt zu denken. Zumindest im laufenden Galopp des ersten Corona-Semesters war dafür aber nicht genug Vorlauf.

Digitale Prüfungen

Die Überwachung von digitalen Prüfungen ist umstritten. An vielen Hochschulen wird diese inzwischen per Kamera oder Überwachungssoftware praktiziert. Datenschutzrechtlich bleibt das Vorgehen aber umstritten. Warum und wie sich das umgehen lässt, erklärt Professor Rolf Schwartmann. Er rechnet damit, dass es in Einzelfällen durch Gerichtsurteile im Nachgang der Prüfungen geklärt werden wird. Einzelne Gerichte haben bereits im Eilverfahren Anträge im Vorfeld von Prüfungen abgelehnt.

Der Deutsche Hochschulverband (DHV) hat Hochschulen und Gesetzgeber aufgefordert, Rechtssicherheit bei digitalen Prüfungen zu schaffen. Auch die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) forderte von den Hochschulen, bestehende rechtliche Unsicherheiten rund um digitale Prüfungen durch entsprechende Verordnungen zu beseitigen. Welche Prüfungsformate künftig digital erlaubt sein werden, ist auch für die Dozierenden in der Konzeption ihrer Lehre entscheidend.

F&L: Hätte es im zweiten Corona-Semester besser laufen können?

Anne Frenzel: Im Prinzip schon, aber viel Zeit für strategische Planung war auch da nicht. Lehrende hatten kaum mal Zeit durchzuatmen und sich neu zu orientieren. Zu Beginn des Wintersemesters war nicht abzusehen, dass die geplanten Hybrid-Modelle nicht durchführbar sein würden, und nun ist nicht abzusehen, wie das kommende Sommersemester laufen wird. Zwar haben sich die Hochschulen und die Dozierenden vergleichsweise früh zur Sicherheit auf einen möglichst großen Anteil an digitalen Formaten festgelegt und vorbereitet, allerdings eher für die Lehre. Bei den Prüfungen sind im Winter glaube ich ganz viele der Illusion erlegen, diese könnten überwiegend in Präsenz stattfinden.

F&L: Rechnen Sie mit andauernder Pandemie denn mit einer zunehmend besseren Passung?

Anne Frenzel: Ich hoffe schon, dass sich das einpendeln wird. Studierende waren schon immer gut darin, in Lehrveranstaltungen zu fragen, was für die Prüfungen relevant ist. Derzeit drängen sie mit diesen Nachfragen die Dozierenden noch intensiver dazu, sich der nachfolgenden Prüfungen bewusst zu sein. Sie fordern jetzt verstärkt proaktiv Transferaufgaben schon in der Lehre ein. Für sie ist es auch eine Chance, vom ungeliebten Binge-Learning wegzukommen. Viele Studierende bevorzugen transferorientierte Prüfungen und erleben diese als weniger bedrohlich.

"Viele Studierende bevorzugen transferorientierte Prüfungen."

F&L: Wird es also bald kein Binge-Learning mehr geben?

Anne Frenzel: Ich könnte mir vorstellen, dass es sich je nach Fächerkultur verschieden entwickelt. Mancherorts wird denke ich der Knoten platzen und sich stärker Transfer-orientierte Prüfungsformate etablieren. Dieses zum Beispiel in Essays abzufragen, ist nicht massentauglich und daher eher in kleineren Studiengängen machbar. Aber es ist auch ein Lerneffekt unter Dozentinnen und Dozenten zu entdecken, dass auch mit Multiple-Choice-Aufgaben nicht nur Fachbegriffe, sondern auch effizient Transfer abgefragt werden kann, wenn die Fragen entsprechend gestaltet sind. Das ist schwieriger im Prüfungs-Design, aber möglich. Ich würde mich freuen, wenn sich da was tut.

F&L: Was ist in der digitalen Lehre generell nicht vermittelbar und daher auch nicht digital abfragbar?

Anne Frenzel: Die praktischen Lehrinhalte wie Laborpraktika oder Anatomiekurse sind natürlich nicht digitalisierbar, allerdings weder in der Lehre noch in der Prüfung. Solche Dinge werden meines Erachtens auch weiterhin in Präsenz stattfinden. In meinem Fachbereich ist grundsätzlich ein Großteil des Wissens und der angestrebten Kompetenzen auch digital vermittelbar, wenn auch mit mehr Anstrengung verbunden.

F&L: Viele Dozierende haben bereits mit Herzblut und viel Mühe neue Formate entwickelt, um die Qualität ihre Lehre auch digital aufrecht zu erhalten. Wenn sich die Lehre nun stärker den Prüfungen anpassen muss und wird, wurden dann manche Lehrformate für die Tonne produziert?

Anne Frenzel: Das könnte passieren, hat sich aber bislang noch nicht offenbart. Derzeit sind die Studierenden sehr dankbar für alles, was in der Lehre angeboten wird, umso mehr, wenn es neue Wege beschreitet und damit Abwechslung und Chancen eröffnet. Der Wert einzelner neu entwickelter Lehrveranstaltungen wird sich, denke ich, erst später zeigen, sobald sich ein funktionaler Lehrmodus an den Hochschulen etabliert hat. Bis dahin bleibt viel Raum zum Ausprobieren. Ob ein Lehrformat effektiv auf die Prüfungen vorbereitet und deswegen von den Studierenden angenommen wird, liegt dabei in der Hand der Dozierenden.