Illustration einer Videokonferenz. Die Köpfe der Teilnehmenden sind als schwarze Silhouetten dargestellt.
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Studentische Partizipation
Recht auf schlechte Lehre?

Ist es im Sinn der Studierenden, bei der Teilnahme an Lehrveranstaltungen auf Freiwilligkeit zu setzen? Warum sie sich aktiv einbringen sollten.

Von Michaela Rehm 08.02.2023

Während der Pandemie waren viele Lehrende mit demselben Phänomen konfrontiert: mit den berühmt-berüchtigten "schwarzen Kacheln" in Videokonferenzen. Fraglos gibt es eine Menge guter Gründe, sich in solchen Situationen nicht zu zeigen – nicht alle Studierenden können sich die notwendige technische Ausrüstung leisten, nicht alle haben zuhause einen ruhigen und vorzeigbaren Platz für Online-Lehre, nicht alle können sich frei von Fürsorgepflichten ihren Online-Lehrveranstaltungen widmen. Doch selbst wenn man die Zahl von Studierenden mit diesen und vergleichbaren Belastungen sehr großzügig einschätzte, bliebe eine signifikante Menge von Personen, für deren Verbergen mutmaßlich andere Gründe ursächlich sein werden. Schlussendlich hat man es hier mit einem altbekannten Problem zu tun, das sich in der Online-Lehre nur eben in einem neuen Gewand zeigt, namentlich der auch aus Präsenzveranstaltungen vertrauten geringen Bereitschaft mancher Studierender, sich – in welcher Form auch immer – in die akademische Lehre einzubringen.

Sind uninspirierte Lehrende der Grund für studentisches Desinteresse?

Wer über das geringe Interesse mancher Studierender am Studium und am akademischen Leben generell berichtet, sieht sich schnell mit dem Einwand konfrontiert, in solchen Fällen seien die Lehrveranstaltungen einfach nicht interessant genug. Eine gut aufbereitete Lehre mit spannendem Stoff, präsentiert von einer charismatischen Persönlichkeit, sorge quasi automatisch für engagierte Studierende, die auch ohne verpflichtende Teilnahme regelmäßig teilnähmen und sich aktiv in die Lehrveranstaltung einbrächten, so bekommt man zu hören.
 
Diese Probleme einzig auf das Unvermögen Einzelner zurückzuführen, einigermaßen interessante Lehrveranstaltungen anzubieten, wäre höchstens im Falle von Vorlesungen plausibel. Bei so ziemlich allen anderen Lehrformaten wird man doch zugeben müssen, dass sie ohne ein gewisses Maß an studentischer Partizipation nicht gelingen können. Dass es sich nicht einfach nur um ein Problem handelt, das einzelne dröge, uninspirierte Dozentinnen und Dozenten betrifft, sondern um eines der zentralen Themen, die Hochschullehrende belasten, ist auch empirisch belegt (Weijers et al. n.d.).

Nun könnte man sagen, klar, für die Lehrenden ist das ein Problem – sie haben weniger Planungssicherheit, müssen flexibler sein, sich auf ein Publikum in stets wandelnder Zusammensetzung einstellen. Aber damit müssen sie eben leben, denn für die Studierenden, für die ist es doch von Vorteil, wenn keine oder zumindest kaum Partizipation von ihnen gefordert wird. Eben das bestreite ich.

Denn zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass regelmäßige Anwesenheit in Lehrveranstaltungen eine maßgebliche Voraussetzung für erfolgreiches Studieren darstellt, wie gleich mehrere empirische Studien belegen (beispielsweise Büchele 2021, Bijsmans & Schakel 2018, Sund & Bignoux 2018, Schulmeister 2015): Sie führt zu besseren Noten, geringeren Abbruchquoten und mehr Motivation bei den Studierenden.

Die universitäre Lehrveranstaltung als erstklassiges Fairness-Training

Doch ist es nicht zu neoliberal gedacht, von "erfolgreichem Studieren" zu sprechen, im Sinne einer stromlinienförmigen Vorbereitung auf das spätere Berufsleben? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Studierende, die sich im Selbststudium auf ihre Studien- und Prüfungsleistungen vorbereiten, werden das anhand der Pflichtlektüre tun. Das Studium wird damit tatsächlich zu einer Ausbildung, in deren Verlauf man einen bestimmten Stoff inhaliert haben muss, um dann den Abschluss als Eintrittskarte in das Erwerbsleben zu erlangen.

"Wie soll man kritisches, autonomes Denken entwickeln, wenn man sich nie in die Verlegenheit bringt, die eigenen Argumente in der Diskussion zu überprüfen?"

Wie soll man kritisches, autonomes Denken entwickeln, wenn man sich nie in die Verlegenheit bringt, die eigenen Argumente in der Diskussion mit anderen Auffassungen zu überprüfen? Wenn es gut geht, bietet eine universitäre Lehrveranstaltung ein erstklassiges Fairness-Training – man lernt, die Beiträge der Kommilitoninnen und Kommilitonen inhaltlich zu würdigen, die eigene Blase zu verlassen und Andersdenkende zu respektieren, Texte wohlwollend und zugleich kritisch zu interpretieren; man erwirbt soziale, hoffentlich sogar interkulturelle Kompetenz und ein Bewusstsein für Ausschlussmechanismen. Inhaltlich wird ein Seminar weit mehr bieten, als nur die Pflichtlektüre aufzubereiten. Man erfährt, dass Punkte, die man selbst bei der Vorbereitung als völlig unproblematisch empfunden hat, kontrovers diskutiert werden, wird auf Deutungen gestoßen, auf die man alleine nicht gekommen wäre, hat inspirierende Aha-Erlebnisse. Die besprochenen Texte werden in ihren Kontext eingebettet, Bezüge zu anderen Autorinnen und Autoren, zu anderen Schriften werden hergestellt.

Dabei geht es gerade nicht um marktkonforme Ausbildung, sondern ganz altmodisch um Bildung, was Max Horkheimer in seiner Rektoratsrede als den Gedanken beschrieb, dass "das Studium an der Universität nicht bloß bessere wirtschaftliche und gesellschaftliche Möglichkeiten erschließt, nicht bloß eine Karriere verspricht, sondern zur reicheren Entfaltung der menschlichen Anlagen, zu einer angemessenen Erfüllung der eigenen Bestimmung die Gelegenheit bietet" (Horkheimer 1985).

Wechselseitige Erwartungen von Studierenden und Hochschule

Aber hat man es denn nicht mit Erwachsenen zu tun, die selbst entscheiden können, wie sie ihr Studium gestalten, und die ihren Studiengang doch freiwillig gewählt haben? Greift es dann nicht fehl, von ihnen zu erwarten, sich mehr zu involvieren? Interessanterweise verlassen sich gerade diejenigen Universitäten, die Bestenauslese betreiben, zumindest nicht ausschließlich auf die intrinsische Motivation der Studierenden – obwohl man diese bei Personen, die einen komplizierten Zulassungsprozess durchlaufen mussten, doch voraussetzen dürfte. Was auffällt, wenn man die Websites verschiedener weltweit renommierter Universitäten studiert, ist die Betonung einer wechselseitigen Beziehung zwischen Universität und Studierenden, die Information über Forderungen einschließt, welche beide Seiten legitimerweise aneinander richten dürfen. Es werden Verträge zwischen studierender Person und Universität geschlossen, in denen die für die jeweilige Seite geltenden "Terms and Conditions" aufgeführt sind.  

Die Immatrikulation an einer deutschen Universität dagegen ähnelt vielleicht zu sehr einer Art Kaufvertrag: Man bucht einen bestimmten Studiengang und verbindet damit Erwartungen an dessen Qualität und die Kompetenz der Lehrenden, aber das ist eine recht einseitige Angelegenheit. Erstsemester erfahren zu Beginn ihres Studiums in der Regel schnell, was ihre Universität nicht von ihnen verlangen darf, insbesondere keine regelmäßige Anwesenheit. Was die Universität ihrerseits für Erwartungen an die Studierenden hat, wird kaum thematisiert. Das mag man als liberale Praxis verstehen, durch welche der Autonomie der Studierenden Rechnung getragen wird. Es ist aber nicht fair, Studierende darüber im Unklaren zu lassen, was zumindest prima facie von ihnen erwartet wird – und vermutlich schätzen die meisten Lehrenden eine regelmäßige Partizipation, selbst wenn sie diese nicht zur Pflicht erheben wollen. Wenn derlei nicht kommuniziert wird, benachteiligt diese Intransparenz nicht zuletzt Studierende, die keinen akademischen familiären Hintergrund haben und denen niemand verrät, wie man im universitären Alltag reüssiert.

Problematisch ist das akademische Laissez-faire – "die Studierenden sind ja alle erwachsen und gestalten ihr Studium selbst" – außerdem, wenn über die Bedingungen eines gelingenden Studiums nicht informiert wird, obwohl diese hinreichend bekannt sind. Zu diesen Bedingungen (siehe oben) gehört die regelmäßige Teilnahme an den Lehrveranstaltungen. Das nicht zu kommunizieren, hat nichts mit Respekt vor der Reife und Autonomie von Studierenden zu tun, sondern mit Verantwortungslosigkeit derer, die es besser wissen müssten.

Deutsche und internationale Hochschulen im Vergleich

Bezeichnenderweise betreiben die Universitäten, die international als Leuchttürme nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre wahrgenommen werden, erheblichen Aufwand, um ihre Studierenden über Erfolgsbedingungen zu unterrichten. Die Oxford Universität etwa verweist im "University Student Handbook" wiederholt auf den Bestseller "The Study Skills Handbook" von Stella Cottrell, die mit erwiesenermaßen wirksamen Tipps darüber aufwartet, wie man das Beste aus Lehrveranstaltungen herausholt, das Selbststudium organisiert, effektive Notizen macht und vieles mehr. Die Nummer 1 ihrer "Ten Golden Rules" für Studierende lautet übrigens: "Turn up!" Die University of Reading informiert unter der Überschrift "Attendance and Engagement Supporting your Studies" quasi in einem Atemzug über Erwartungen an die Studierenden wie auch die Unterstützungsangebote der Universität, denn: "We want you to be succesful in your studies."  

Während hierzulande im Bereich der Forschung auf Internationalisierung und Wettbewerbsfähigkeit mit den besten Universitäten weltweit gedrängt wird, verzichtet man auf solche Vergleiche, was die Qualität der Lehre betrifft. So entsteht der Eindruck, als hätte die Hochschulpolitik in Sachen Lehre längst resigniert. Ohne Frage macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man Studierende mit dem Budget einer Ivy League-Institution betreut oder mit dem einer bundesdeutschen Massenuniversität. Das bietet dennoch keine Rechtfertigung dafür, Kriterien für Erfolg im Studium nicht zu benennen und entsprechende Maßnahmen nicht zu implementieren: Besser geht es immer, auch wenn das Optimum nicht erreichbar sein wird.

Sicher ist das auch eine Frage des Geldes; es wäre einfacher, sich angesprochen zu fühlen und Fortschritte im Studium zu erzielen, wenn man sich im Verhältnis zur Universität nicht als Teil einer anonymen Masse zu fühlen bräuchte. Aber vermutlich müsste man genau hier ansetzen und die Immatrikulation stärker als eine Art von wechselseitigem Vertrag konzipieren, damit Studierende sich weniger als Konsumentinnen und Konsumenten und mehr als vollwertige Mitglieder der Universität begreifen. Mehr Verbindlichkeit bedeutet jedoch mehr Aufwand für Studierende, und das mag ein wesentlicher Grund dafür sein, weshalb sich deutsche Universitäten tendenziell mit der Formulierung von Erwartungen an Studierende schwertun. Denn mehr Verbindlichkeit stellt fraglos eine Herausforderung für alle Studierenden dar, die unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leiden, ihr Studium selbst finanzieren oder Betreuungsaufgaben schultern müssen. Glücklicherweise hat es hier einen beträchtlichen Wandel gegeben, um auch denjenigen ein Studium zu ermöglichen, die sich ihm nicht frei von Belastungen widmen können.

Fehlende Anwesenheitspflicht – Eine gute, aber schlecht umgesetzte Idee

Keine Anwesenheit zu erwarten, dürfte der Stützpfeiler einer Politik sein, die ersonnen wurde, um diese Menschen zu entlasten, doch es handelt sich leider um den Fall einer guten Idee, die schlecht umgesetzt worden ist: Aus einem Abwehrrecht ("Die Universität darf von mir nichts verlangen, was mir ein Studium verunmöglicht") hat sich faktisch ein Anspruchsrecht entwickelt ("Ich habe ein Recht darauf, seitens der Universität nicht mit Forderungen behelligt zu werden"). Einen solchen Anspruch erheben mittlerweile recht selbstverständlich auch viele Studierende, die nicht unter Einschränkungen leiden. Eines von vielen möglichen Beispielen  aus der Präsenz- wie auch der Online-Lehre für dieses Phänomen, aber eben ein besonders prägnantes, sind die eingangs erwähnten schwarzen Kacheln.

Ohne Frage sollte eine stillende Person unbeobachtet an einer Lehrveranstaltung teilnehmen können, aber der Punkt ist, dass gerade sie darauf angewiesen wäre, dass die anderen zu einem funktionierenden Seminar beitragen – wozu in einer Zoom-Sitzung gehört, die Kamera anzuschalten, wenn keine schwerwiegenden Gründe dem entgegenstehen. Statt sich mit den schutzbedürftigen Kommilitoninnen und Kommilitonen solidarisch zu zeigen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu gelingenden Lehrveranstaltungen beizutragen, fühlen sich etliche Studierende berechtigt, sich nach Belieben auszuklinken. Aus einem Abwehrrecht, das vulnerable Personen schützen sollte, ist so ein Anspruch geworden, den viele Studierende mit größter Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch nehmen, unabhängig vom Vorliegen eigener Belastungen.

"Was genau spricht eigentlich gegen eine Anwesenheitspflicht, wenn sichergestellt ist, dass bestimmte Fehlzeiten toleriert werden?"

Was genau spricht eigentlich gegen eine Anwesenheitspflicht, wenn sichergestellt ist, dass bestimmte Fehlzeiten toleriert werden und für Studierende mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen, schwierigen Arbeitszeiten oder Betreuungsaufgaben großzügige Ausnahmeregelungen gelten? Wäre es nicht besser, diesen maximal entgegen zu kommen, als unterschiedslos für alle Studierenden die Anforderungen zu senken? Außerhalb akademischer Zirkel erntet man ungläubiges Staunen oder gar Heiterkeit, wenn man berichtet, dass man zu den angeblich höchsten Weihen, welche in Sachen (Aus-)Bildung überhaupt zu haben sind, auch im Selbststudium gelangen kann: nahezu ohne Teilnahme an Lehrveranstaltungen, die von aufwendig nach fachlicher Kompetenz und didaktischer Eignung ausgesuchten Lehrenden geleitet werden.  

Demgegenüber sollte gute Lehre offensiv als Gemeinschaftsleistung propagiert werden, mit klar kommunizierten Erwartungen der Studierenden an die Lehrenden, aber auch der Lehrenden an die Studierenden. Und nicht zuletzt sollten sich Studierende in den jeweiligen Lehrveranstaltungen darüber verständigen, was sie voneinander erwarten. Will man partout keine Pflicht zu regelmäßiger Anwesenheit, sollte möglichst lautstark, regelmäßig und breit gestreut auf sie gepocht werden – weil ohne verlässliche studentische Partizipation keine gute Lehre zu haben ist und dies negative Konsequenzen für den Studienerfolg zeitigt, kurzum: weil es im Interesse der Studierenden liegt.

Eine Fassung des Beitrags mit Literaturangaben kann bei der Redaktion von Forschung & Lehre angefordert werden.