Ältere Frau und mittelalter Mann in Business-Kleidung diskutieren und beraten sich in einem Besprechungsraum
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Wissenschaftliche Politikberatung
Erfahrungen in der Beratung von Politikern

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beraten die Politik zu vielen Themen. Wie sieht ihre Arbeit aus und welche Herausforderungen birgt sie?

17.06.2022

Die Handschrift der Beratenden

Gerade in der mit vielen Ungewissheiten behafteten pandemischen Lage war die Politik besonders an wissenschaftlicher Beratung interessiert und hat diese auch konkret eingefordert, wie etwa eine gemeinsame Positionierung des Ethikrates, der Leopoldina und der Ständigen Impfkommission zu Kriterien der Verteilung initial knapper Impfstoffe. Auch wenn im politischen Prozess Schärfungen und Nachbesserungen nötig wurden, war die Handschrift der beratenden Gremien in der gesetzlichen Umsetzung der Priorisierung klar erkennbar.

Portraitfoto von Prof. Dr. Susanne Schreiber
Susanne Schreiber ist Stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrates und Pro­fesso­rin für Theoretische Neurophysiologie an der HU Berlin. privat

Beratende Expertinnen und Experten können jedoch nicht erwarten, dass ihre Meinung immer gehört wird. Das ist auch gut so. Auf der politischen Ebene sind oftmals weitere Zusammenhänge zu berücksichtigen, die den Fokus und die Kompetenz eines beratenden Einzelgremiums übersteigen. Die abschließende Gesamtabwägung muss die Politik selbst vornehmen und dafür auch gegenüber den Wählerinnen und Wählern die Verantwortung übernehmen. Das heißt natürlich nicht, dass ich mir nicht trotzdem bei der ein oder anderen politischen Entscheidung einen anderen Ausgang gewünscht hätte.

Im Ethikrat nehmen sich 24 Expertinnen und Experten unterschiedlicher Disziplinen Zeit für Recherche, Austausch und eine empirisch untermauerte, gemeinsame Meinungsbildung – deutlich mehr Zeit, als Einzelpersonen in der Politik investieren können. Die Abwägungen sind komplex, da sie Fakten und Kriterien aus unterschiedlichsten empirischen und normativen Bereichen berücksichtigen, und führen nicht in jedem Fall zu einem einstimmigen Ergebnis. Es stellt sich uns daher immer wieder die Frage, wie die Politik am besten beraten ist: mit einer möglichst eindeutigen Empfehlung des Rates, gegebenenfalls als Kompromiss unterschiedlicher Perspektiven, oder vielmehr durch eine differenzierte Darlegung von Argumenten pro und contra, die alle Seiten beleuchtet, und der einzelnen Politikerin und dem einzelnen Politiker somit ein komplexes Bild bietet, welches der fundierten Unterstützung der eigenen Meinungsfindung dient. Ich persönlich bevorzuge die letztere Variante.


Der Schuster braucht einen neuen Leisten  

Die globale, europäische und nationale Klimapolitik wird von der Wissenschaft entscheidend mitbestimmt. Ohne sie gäbe es weder das Paris-Abkommen noch den European Green Deal – und die verschiedenen Bundesregierungen haben sich ein Netz von Beratungsinstitutionen geschaffen, das bei der Formulierung von Zielen und Maßnahmen hilft und die Wirksamkeit beurteilt. Seit rund 15 Jahren bin ich hier auf allen Ebenen beteiligt. Doch mir wird immer klarer: Für ein Entscheidungsproblem der Politik trägt Wissenschaft nicht automatisch Relevantes bei.

Ein Beispiel: Den Aufwand, zwecks Klimaneutralität CO2 zurück aus der Atmosphäre zu holen, kann man begrenzen, je mehr man die Nachfrage nach Fleisch, Wohnraum oder Autofahren reduziert und so Emissionen vermeidet. Es gibt mehrere gangbare Wege, die mit unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und Lebensstilen vereinbar sind. Die Wissenschaft hat keine Kompetenz, Lebens- und Gesellschaftsentwürfe zu fordern oder zu verwerfen, das ist in einer Demokratie Sache der Bürgerinnen und Bürger. Aber beleuchten muss sie das schon.

Das Diktum von Max Weber, die Wissenschaft möge sich auf Tatsachenurteile und Zweck-Mittel-Aussagen beschränken, ist bei komplexen Entscheidungsproblemen wie dem Klima-Thema nicht durchzuhalten. Zu sehr sind Tatsachen- und Werturteile miteinander verwoben. Und die Fachleute bestimmen im Dialog mit der Politik nicht nur die Mittel mit, die zur Erreichung der Ziele notwendig sind, sondern auch die Ziele selbst. Gewiss, es ist eine Gratwanderung: Eine anmaßende Wissenschaft, die ihr Mandat überschreitet, führt ja laut Weber in ein "stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit", also zu einer Expertokratie, die die Demokratie bedroht.

Portraitfoto von Prof. Dr. Ottmar Edenhofer
Ottmar Edenhofer ist Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor für die Ökonomie und Politik des Klimawandels an der TU Berlin. PIK/Ausserhofer

Wie oft habe ich die Forderung aus der Politik gehört: Sagt uns doch, welcher Lösungspfad der beste ist! Der Wunsch nach Alternativlosigkeit ist immer dann sehr ausgeprägt, wenn die Politik die öffentliche Debatte scheut oder Entscheidungen im Nachhinein legitimieren will. Ich habe in wissenschaftlichen Beratungsgremien immer dafür gekämpft, dass wir den Raum sinnvoller Möglichkeiten ausloten, aber nicht in szientistischer Selbstüberschätzung Lebens- und Gesellschaftsmodelle präjudizieren. Als "anmaßende Weltbehörde für Glückseligkeit" karikierte kürzlich die Tageszeitung "Die Welt" den Weltklimarat – nur weil dieser in seinem jüngsten Bericht exploriert, welchen Beitrag Lebensstiländerungen zur Verminderung von Emissionen leisten können. Da sieht man, wie dünn die Luft ist.

Die Wissenschaft wird in der Politikberatung auch künftig verstärkt gefordert sein. Sie muss hier neue Wege gehen: Bei der Synthese des wissenschaftlichen Sachstandes und bei der Evaluierung von politischen Maßnahmen wird der Einsatz von Big-Data-Methoden und maschinellem Lernen unverzichtbar. Zudem können durch methodisch kontrollierte Szenarien Entscheidungen unter Unsicherheit wesentlich verbessert werden. Doch am wichtigsten erscheint mir die Klärung der Rollen: Die Herrschaft der Expertinnen und Experten ist ebenso eine Dystopie wie demokratische Regierungen, die angesichts der Komplexität kaum noch zwischen Alternativen rational abwägen können.


Die eigene Rolle reflektieren

Erfahrungen mit Politikberatung habe ich seit den 2000er Jahren gesammelt, als sich die Bildungspolitik nach dem "PISA-Schock" (2001) im Krisenmodus befand. Die Ministerien bauten Kontakte in die Forschung aus, um sich zu informieren, Handlungsoptionen zu beraten und auch, um ihr Handeln zu legitimieren. Die Verbindungen sind seitdem weiter institutionalisiert worden. Seit 2021 "leistet" sich die Kultusministerkonferenz eine "Ständige wissenschaftliche Kommission" (SWK) mit 16 berufenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Je nach Thema sind auch Bund und Kommunen beteiligt und über öffentliche Hearings wird weiterer Sachverstand eingebunden.

Portraitfoto von Prof. Dr. Isabell van Ackeren
Isabell van Ackeren ist Mitglied der SWK der Kultusministerkonferenz und Professorin für Bildungs­system- und Schul­entwicklungsforschung an der Universität Duisburg-Essen. privat

Krisenhafte Ereignisse, wie Flucht oder Corona-Pandemie, haben die Beratungsanlässe weiter befördert; digitale Formate ermöglichen es der Politik, sich ad hoc mit Wissenschaft zu aktuellen Themen auszutauschen. Zunehmend präsent sind dabei auch zivilgesellschaftliche Akteure: Stiftungen, Bildungsinitiativen, Bildungspraxis (zum Beispiel Schulleitungen). Wissenschaft kommt dabei stärker in die Situation, die eigene Rolle zu reflektieren – auch angesichts dessen, dass es längst nicht zu allen politisch relevanten Themen Forschung gibt beziehungsweise diese unmittelbaren Nutzungsinteressen oft nur bedingt gerecht wird. Aus Beratungskontexten lassen sich auch für die Wissenschaft Erkenntnisse ziehen, zum Beispiel über mögliche Forschungsfelder und -formate, aber auch dazu, wie adressatenorientierter über Daten und Erkenntnisse berichtet werden kann. Insgesamt nehme ich oft ein echtes Interesse an wissenschaftlich fundierten "Optimierungsmöglichkeiten" wahr, besonders in Zeiten mit hoher Handlungsunsicherheit. Zugleich werden immer wieder Handlungslogiken und Systemzwänge von Politik offensichtlich, die an Macht und Durchsetzbarkeit orientiert sind; nicht selten wird dies auch thematisiert, steht einer Veränderung aber dennoch im Weg. Umso wichtiger erscheint eine Rolle von Wissenschaft, die Politik empfiehlt und Hinweise gibt, wie sich politische Programme hinsichtlich ihrer Wirkungen evaluieren und monitoren lassen, um politisches Handeln evidenzbasierter zu gestalten.


Bohren dicker Bretter

Ein Gefühl des Erfolges: Viele integrationspolitische Empfehlungen des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) finden sich im aktuellen Koalitionsvertrag wieder. Eine entsprechende Agenda hatte der Rat vor den Koalitionsverhandlungen veröffentlicht. Hier gelingt es, anhand konkreter Formulierungen die eigene "Handschrift" aus diesem Dokument "herauszulesen". Dabei greift "die Politik" unsere Empfehlungen nicht immer Eins zu Eins auf – im Koalitionsvertrag beispielsweise hätte sich der Rat konkretere Angaben zur humanitären Einwanderung gewünscht. Aber hier lohnt sich das Bohren dicker Bretter.

Denn es zeigt sich: Wissenschaftsbasierte Fakten, Orientierungshilfen auf der Basis nachvollziehbarer Studien sind im Bereich Flucht, Migration und Integration nach meiner Beobachtung auf allen politischen Ebenen – von der Kommune bis zur globalen Entscheidungssphäre – nachgefragter denn je. Es gilt, der oft emotionalen Debatte überprüfbare Daten für fundierte Entscheidungen entgegenzusetzen.

Portraitfoto von Prof. Dr. Petra Bendel
Petra Bendel ist Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration und Professorin für Politische Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. SVR/Setzpfandt

Im Rahmen des SVR gelingt es uns immer wieder, Parlamente und Regierungen wie auch Verbände oder Migrantenorganisationen unabhängig zu beraten und neue Impulse zu setzen – angefragt oder selbsttätig. Wir beteiligen uns an Anhörungen im Bundestag oder in Landtagen – beispielsweise zum Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder zu den Teilhabegesetzen der Bundesländer –, wir verfassen Policy Papers und greifen, zum Beispiel in den SVR-Jahresgutachten, Themen mit Zukunfts­charakter auf. In diesem Jahr war das die Fachkräftezuwanderung ins Gesundheitswesen, im kommenden Jahr nehmen wir uns die Konsequenzen des Klimawandels für aktuelle und künftige Migrationsbewegungen vor.

Dabei sind wir allein wissenschaftlichen Kriterien verpflichtet – das steht ganz prominent in unseren Statuten und wird auch von allen Kolleginnen und Kollegen gelebt. Es unterscheidet uns von anderen Modellen der Politikberatung, die eher in Richtung Ressortforschung gehen. Wenn wir unsere Expertisen interdisziplinär zusammentragen, dürfen wir zweifeln und in Frage stellen. Wir können transparent aufzeigen, was wir wissen, aber auch was wir nicht wissen.

Wissenschaftliche Politikberatung – Schwerpunkt in Forschung & Lehre 6/22

Diese Erfahrungsberichte sind zuerst im Schwerpunkt "Wissenschaftliche Politikberatung" in der Juni-Ausgabe von Forschung & Lehre erschienen. Weitere Artikel und Berichte über die Herausforderungen der wissenschaftlichen Politikberatung haben dafür verfasst:

  • Michael Böcher: Wie funktioniert wissenschaftliche Politikberatung?
  • Regina T. Riphahn und Monika Schnitzer: Erwartungen im Bundestag an die wissenschaftliche Expertise
  • Alexander Bogner: Wie viel Wissenschaft verträgt die Politik?
  • Andreas Busch: Politikberatung in der Corona-Krise im internationalen Vergleich

Forschung & Lehre 6/22 – jetzt lesen!