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Hochschulpolitik
Wie Pseudo-Wettbewerbe der Wissenschaft schaden

Publizieren nach "Impact" und verpasste Chancen bei der Digitalisierung. Isabell Welpe und Björn Brembs erklären, was sie daran ändern würden.

Von Ina Lohaus 08.05.2019

Forschung & Lehre: Welche sind aus Ihrer Sicht schwerwiegende Fehlentwicklungen in der Wissenschaft?

Isabell Welpe: Wissenschaft ist unsere beste Chance, die aktuellen Herausforderungen der Menschheit – zum Beispiel in den Bereichen Ernährung, wachsender Weltbevölkerung, Zukunft der Mobilität und Energieversorgung, sowie Bekämpfung von Krankheiten – zu bewältigen. In den letzten zehn Jahren gab es viele prominente Stimmen, die besorgt darauf hingewiesen haben, dass Forschungsergebnisse – auch in Spitzen-Journalen – oft nicht mehr repliziert werden können, dass die Anstrengungen der Forschenden sich nicht auf die wichtigsten Fragen richten, sondern darauf, in einem der Prestigejournals zu landen, was leider nicht dasselbe ist. Der Nobelpreisträger Randy Schekman hat es die "Tyrannei der Luxus-Journals" genannt.

Portrait von Professor Björn Brembs
Björn Brembs ist Professor für Neurogenetik an der Universität Regensburg. privat

F&L: Was ist die Hauptursache für die­se Fehlentwicklungen?

Björn Brembs: Alle Daten deuten darauf hin, dass die Einführung Kennzahlen-basierter Pseudo-Wettbewerbe beziehungsweise künstlicher Märkte einen großen Anteil an diesen Entwicklungen hat. Der Anfang dieser Entwicklungen liegt zum einen im "New Public Management", aber natürlich auch im legitimen Wunsch der Öffentlichkeit, über die Leistung der (von der Öffentlichkeit finanzierten) Forscherinnen und Forscher und der Wissenschaftsorganisationen informiert zu sein. Man will wissen, wie exzellent, wie innovativ, wie leistungsstark und effizient sind denn nun unsere Hochschulen im Vergleich zu anderen. Leider gibt es Bereiche, die sich denkbar schlecht für eine Beurteilung durch Laien eignen; dazu gehören zum Beispiel Grundlagenforschung, aber auch Rechtsprechung und kurative medizinische Handlungen. Der Versuch, durch die Inszenierung von Märkten und die Einführung künstlicher Märkte durch Rankings, Kostenolympiaden in Krankenhäusern, Zitationszahlen und ähnliches Qualität zu messen, scheitert oftmals. Hier findet Einsteins Diktum Anwendung, dass nicht alles, was gezählt werden kann, zählt und nicht alles, was zählt, gezählt werden kann.

In der Forschung geht es um Originalität und Erkenntnis, für die es leider keinen natürlichen Markt gibt. Weil zu einem bestimmten Zeitpunkt zuerst oft nur wenige die Forschung verstehen, hat die Politik künstliche Märkte geschaffen, die aber dazu führen, dass Quantität statt Qualität und oft auch Unsinn statt Sinn veröffentlicht wird. Dies führt dann zu Aktivitäten ohne große Relevanz für Wirtschaft, Staat und Gesellschaft, manchmal sogar zu unmittelbarem Schaden, wie zum Beispiel Drittmittelanreizsysteme, die teure anstelle von effektiven Experimenten belohnen.

Heute arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daran zu publizieren und nicht an der Wissenschaft, in der falschen Vorstellung, beide wären deckungsgleich. Das ist Goodhearts Gesetz: "Hitting the target and missing the point." Beispiele dafür sind Universitäten, die durch Verbesserung der Datenbasis in Rankings klettern, ohne an ihren Abläufen oder Strukturen etwas zu ändern. Oder Daten für den Journal Impact Factor (JIF), die zwischen Verlagen und dem Verkäufer des JIF (Clarivate Analytics) verhandelt, anstatt für alle gleich erhoben werden. Der JIF selbst wird dann auch noch mathematisch falsch berechnet und ist in unabhängigen Überprüfungen nicht nachvollziehbar.

Es wäre an der Zeit, dass die Wissenschaft sich wieder mehr auf Wissenschaftler verlässt. Björn Brembs

In den experimentellen Wissenschaften belohnen solche Kennzahlen unverlässliche Wissenschaft und bestrafen methodisch saubere, verlässliche Arbeit, denn der JIF korreliert negativ mit der methodischen Qualität. Obwohl diese Zusammenhänge teils seit Jahrzehnten bekannt sind, ist heute vielerorts immer noch wichtiger, wo wir publizieren als was wir publizieren. Wen wundert es da, dass allenthalben von der "Reproduktionskrise" geredet wird? Nichtsdestotrotz bezahlen wir für unsere 35.000 Journale hyperinflationäre Abonnement-Gebühren, die mittlerweile das zehnfache von den Kosten erreicht haben, die das Publizieren aller Artikel betragen würde, wenn wir es nicht den Verlagen überlassen würden. Und es sind ja die Wissenschaftler, welche die Inhalte produzieren und auch begutachten, also die "ganze Arbeit" machen. Die Verlage verstecken dann die mit Steuermitteln finanzierten und erarbeiteten Erkenntnisse hinter Bezahlschranken. Wer würde sich (außer den Verlagen) nicht darüber ärgern?

Die Exzellenzinitiative hat dann  diese Gesamtsituation noch verschärft: Laut Statistischem Bundesamt erhöhte sich im Zeitraum der Exzellenzinitiative die Zahl der befristet angestellten Wissenschaftler um 45 Prozent, während die unbefristeten Stellen nahezu gleich blieben (plus 0,04 Prozent), so dass die bereits vorher ungesunde Konkurrenz im Prekariat um Plätze in "Top"-Journalen und die damit verbundene Anstellung noch intensiver wurde. Gleichzeitig wurden die Verwaltungen um 17 Prozent vergrößert und damit natürlich auch die Zahl der Formulare, was die Beschäftigung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Wissenschaft nicht intensiviert haben dürfte.

F&L: Wie kann man diese Fehlentwicklungen vermeiden?

Björn Brembs: Der wichtigste Ansatz zur Vermeidung derartiger Fehlentwicklungen ist die wissenschaftliche Methode: Was sind Märkte? Unter welchen Bedingungen arbeiten Märkte effektiv? Ab welchem Konkurrenzdruck schlagen die positiven Anreize von Konkurrenz ins Gegenteil um? Wie setzt sich die wissenschaftliche Gemeinschaft zusammen und welche Kombination von Wettbewerb und Kooperation maximiert ihre Effizienz? Wie lässt sich das Eintreten von Goodhearts Gesetz vermeiden, ohne ganz auf Evidenz-basierte Entscheidungen zu verzichten? Für all diese Fragen hatte die Wissenschaft bereits vor der Einführung Kennzahlen-basierter Pseudo-Wettbewerbe Antworten. Es wäre an der Zeit, dass die Wissenschaft sich wieder mehr auf Wissenschaftler verlässt.

F&L: Welchen Einfluss hat Digitalisierung auf die Hochschulen?

Björn Brembs: Die Digitalisierung (sensu Internet) hat gegen 1991 begonnen und ist nach Implementierung von E-Mail und Browsern an den meisten Institutionen auf dem Stand von 1995 stehen geblieben. Zur Zeit ist nicht abzusehen, wann unsere Institutionen sich auf den Weg aus der digitalen Steinzeit machen werden. Persönlich warte ich seit circa 20 Jahren darauf. Unsere wissenschaftlichen Gesellschaften (scholarly societies) haben trotz des eindeutigen namentlichen Bezugs auch die Chancen der sozialen Technologien verschlafen, mittlerweile auch schon seit über zwölf Jahren. Auch hier ist noch kein Modernisierungsdrang zu erkennen, eher eine Modernisierungsskepsis. Insgesamt scheint die Wissenschaft sich im 20. Jahrhundert so wohl zu fühlen, dass sie es partout nicht verlassen will. Zur Zeit kann ich nur erkennen, dass mit einer jahrzehntelangen Verzögerung nun über Entwicklungen öffentlich nachgedacht wird, die die Wissenschaft selbst Anfang der 1990er angestoßen, aber dann anscheinend vergessen hat. Die Vorhersagen zur Zukunft der Digitalisierung überlasse ich Frau Welpe.

Portrait von Professorin Isabell Welpe
Professorin Isabell Welpe ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strategie und Organisation an der TU München und Wissenschaftliche Leiterin des Bayerischen Staatsinstituts für Hochschulforschung und Hochschulplanung. privat

Isabell Welpe: Die digitale Transformation erfasst nach und nach alle Branchen und wird auch vor den Schulen und Hochschulen nicht halt machen. Die Hochschulen werden sich ein Stück weit neu erfinden müssen, um die Chancen der Digitalisierung zu nutzen und weiter ihrem Bildungsauftrag gerecht zu werden. Erstens geht es um weit mehr als technologische Veränderungen: Es reicht nicht, die Hochschulen mit digitalen Endgeräten auszustatten, um digitale Transformation zu bewältigen, sondern es geht darum, Lernen und Lehre neu zu denken. Zweitens sinken die örtlichen, zeitlichen und finanziellen Zugangsbarrieren zu hochwertiger Bildung, und es entstehen auch neue Anbieter, zum Beispiel sogenannte "Ed Tech Startups". Drittens geht es darum, individuelle Studienangebote anstelle von "one-size-fits-all" Angeboten zu machen, also nicht nur Standardstudiengänge und für alle Studierende gleiche Abläufe und Inhalte ungeachtet der Stärken und Schwächen der Studierenden anzubieten. Die aktuell am stärksten nachgefragten Kompetenzen und Fähigkeiten am Arbeitsmarkt hat es teils vor fünf Jahren noch nicht gegeben, d.h. lebenslanges Lernen wird immer mehr die Regel für uns alle werden.

F&L: Werden die Universitäten durch digitale Innovationen und die gewachsenen Ansprüche aus Wirtschaft und Politik zu Getriebenen?

Björn Brembs: Wenn Universitäten an dem Punkt ankommen, dass sie die oben beschriebenen Pseudo-Märkte für real halten, sind sie vermutlich nicht ganz schuldlos, wenn sie zu Getriebenen werden. Zur Zeit ist für mich noch keine konzertierte Verteidigung gegen die kontra-produktive pseudo-wettbewerbliche Steuerung der Wissenschaft zu erkennen, vielleicht auch weil durch die Einführung Kennzahlen-basierter Pseudo-Märkte jeder nur noch das eigene Überleben und Fortkommen (also das Erreichen der persönlichen Kennzahlen) im Fokus hat?

"Moderne Technologie würde helfen, verschwendete Zeit in sinnvolle, wertvolle Zeit umzuwandeln." Björn Brembs

F&L: Es scheint einen Widerspruch zu geben zwischen Ihrem Anspruch, mit moderner Technologie lange Review­zyklen abzuschaffen und gleichzeitig mehr Zeit, intellektuelle Tiefe und inhaltliche Auseinandersetzung zu fordern, um den "Impact" von Forschung besser bemessen zu können.

Björn Brembs: Der Widerspruch besteht darin, dass wir heute wider besseres Wissen immer noch so tun, als wäre ein gezwungenermaßen oberflächliches Lesen eines Artikels von zwei bis drei Gutachtern unter Zeitdruck ("please return your review within ten days") irgendwie mit "Impact" verbunden. Diese "Impactitis" ist eine Krankheit, die vermutlich durch praktizierten Kennzahlen-Fetischismus übertragen wird. Gerade in den Journalen mit hohem JIF hat die Begutachtung wenig mit Erkenntnis oder intellektueller Tiefe zu tun, sondern mit dem Neuigkeitswert für das Journal oder damit, ob die Quantität der Experimente für das Niveau des Journals ausreichend ist. Die Dauer des Begutachtungsprozesses liegt daher nicht in der Schärfe und Intensität der Auseinandersetzung mit der Materie, sondern in der Anzahl der Neueinreichungen nach serieller Ablehnung und der Dauer der zusätzlichen Experimente. Ersetzen wir diesen kontraproduktiven Anachronismus mit den Möglichkeiten moderner Technologie, könnten wir einen wissenschaftlichen Diskurs und eine Rigorosität erreichen, von denen unsere Vorgänger nur träumen konnten. Lange Reviewzyklen sind nur zu oft verschwendete Zeit. Wissenschaftliche Prüfung, Diskussion und Rezeption sind jedoch unabdingbare Prozesse, um Wissen zu schaffen, und sind die Zeit wert, die sie benötigen. Moderne Technologie würde helfen, verschwendete Zeit in sinnvolle, wertvolle Zeit umzuwandeln.

F&L: Eine der von Ihnen prognostizierten Innovationen an Hochschulen sind personalisierte, individuelle Studienabläufe und eventuell auch Studiengänge. Wer legt die Inhalte fest und wer stellt die Qualität dieser Studiengänge sicher?

Isabell Welpe: Es wäre aus meiner Sicht eine gute Entwicklung, wenn wir Studierenden einerseits mehr Freiheit und damit Eigeninitiative bei der Wahl ihres Curriculums geben würden und andererseits zulassen würden, dass Studienabläufe auf individuelle Stärken und Schwächen zugeschnitten werden. Die Entwicklungen in Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft sind so komplex geworden, dass es in vielen Organisationen zunehmend sinnvoll ist, interdisziplinäre Kenntnisse zu haben, die in Standardstudiengängen oft nicht abgebildet werden. Zum Beispiel werden derzeit dringend Absolventen gesucht, die sowohl technologisches Wissen als auch juristische Kenntnisse haben (RegTech), da viele neue Technologien (denken Sie zum Beispiel an autonomes Fahren) Fragen aufwerfen, die man nur mit vertieften Kenntnissen in beiden Bereichen beantworten kann.

Noch wichtiger als individuelle Studiengänge scheint mir aber die Möglichkeit zu sein, gemäß der eigenen Stärken und Schwächen zu lernen und eben in genau den Fächern, in denen man mehr Lernunterstützung braucht, auch mehr Kurse zu wiederholen, als in Fächern, die einem leichter fallen. Was die Qualitätssicherung angeht, halte ich es mit der Harvard Universität, die wörtlich schreibt: "The primary means for controlling the quality of scholarly activities is through the rigorous academic standards applied in selecting its members." Wenn es um die Vermittlung von Standardwissen geht, was ja oftmals wichtige Grundlagen der Fächer darstellt, werden wir zunehmend digitale Angebote sehen, bei denen Studierende dann bei denjenigen Personen Kurse belegen können, die aus ihrer Sicht didaktisch am besten für sie geeignet sind.

Ich denke, Studierende könnten es auch attraktiv finden, an mehreren Hochschulen und in mehreren Ländern gleichzeitig zu studieren. Isabell Welpe

F&L: Die Studierenden haben gegenwärtig schon Schwierigkeiten, unter den 18.000 Studiengängen den passenden zu finden. Wird mit personalisierten, individuellen Studiengängen die Verwirrung perfekt?

Isabell Welpe: Es geht überhaupt nicht um immer mehr neue starre Studiengänge, sondern darum, Kurse belegen und kombinieren zu können, die man für das eigene Studienprofil als richtig ansieht. Viele Herausforderungen in Wissenschaft und Wirtschaft erfordern nun einmal den Blick über den Tellerrand, und es ist die Frage, ob es sinnvoll ist, dafür immer gleich zwei oder mehr ganze Studiengänge absolvieren zu müssen, oder es nicht sinnvoll wäre, mehr Interdisziplinarität und Flexibilität zuzulassen. Ich denke, Studierende könnten es auch attraktiv finden, an mehreren Hochschulen und in mehreren Ländern gleichzeitig zu studieren und (Teil)abschlüsse zu erlangen, und so die Stärken der Hochschulen zu kombinieren.

F&L: Geht es an Universitäten zukünftig nur noch um Kompetenzen oder auch um Bildung?

Isabell Welpe: Bildung ist ja ein sehr dehnbarer Begriff. Wenn die eigene (Aus)bildung dazu führt, dass man hinterher etwas besser Sinn von Unsinn unterscheiden kann, ist schon viel erreicht – für die Gesellschaft und für das Individuum. Ob Hochschulabschlüsse in 10 bis 20 Jahren noch die gleiche Wichtigkeit haben wie heute? In den USA übersteigen die Kosten bereits in vielen Fällen das Verdienstpotenzial, und wir sehen dort, dass die beliebtesten Arbeitgeber teils keinen Wert mehr auf Hochschulabschlüsse legen, sondern Mitarbeiter nach konkreten Fähigkeiten und bestimmter Bildung auswählen. Und auch in Deutschland gibt es erste Hinweise, dass unsere besten Abiturienten zuletzt in leicht steigender Zahl den Bachelorabschluss an den Berufsakademien  anstreben und nicht mehr unbedingt an der Universität.

F&L: Wie kann eine Universität, die dem schnellen Wandel in Forschung und Lehre unterliegt, zukünftig geführt werden?

Björn Brembs: Anstatt von Führern und Führung sollten wir meines Erachtens – gerade im Hinblick auf die gewachsene Autonomie der Hochschulen – mehr Betonung auf Governance und "Checks and Balances" legen. Professoren sind keine weisungsgebundenen Mitarbeiter, und ich halte Führern zu folgen für die Antithese einer Professur.

Isabell Welpe: Es ändert sich ja viel in der digitalen Transformation, aber ein paar Dinge bleiben zum Glück auch unverändert, zum Beispiel was gute Führung ausmacht; das war und bleibt im Kern: Vertrauen. Führungskräfte in Wissenschaft und Wirtschaft brauchen das berechtigte Vertrauen ihrer Mitarbeiter in sie, das man sich durch Kompetenz und Integrität erwirbt.

F&L: Was bleibt vom traditionellen Selbstverständnis der Universitäten übrig?

Björn Brembs: Wenn wir weiter so tun, als wären die oben beschriebenen Pseudo-Märkte real, als könnte man Wahrheit und Erkenntnis in Universitäts-Rankings erkennen, ist bereits das Meiste des traditionellen Selbstverständnisses der Universitäten unwiederbringlich verloren.