Studierende laufen über einen Campus
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Serie: 25 Jahre Forschung & Lehre
Wie sich das Verständnis von Bildung verändert hat

Das Leben scheint immer stärker getaktet. Von überall prasseln Informationen ein. In der Bildung droht etwas Zentrales auf der Strecke zu bleiben.

Von Harald Lesch 18.05.2019

Ich beginne mal mit dem Begriff Verständnis, auch der hat sich nämlich verändert. Verständnis kommt von Verstehen, also vom inhaltlichen Begreifen eines Sachverhalts, das nicht nur in der bloßen Kenntnisnahme besteht, sondern auch und vor allem in der intellektuellen Erfassung des Zusammenhanges, in dem der Sachverhalt steht. Ein tieferes Verständnis, im Sinne eines soweit wie möglich vollständigen Verständnisses, auch als Überblick und Einordnung in Zusammenhänge, dieses tiefe Verständnis ist heute nicht mehr so sehr gefragt.

Ich habe den Eindruck, dass heute verstehen eher etwas mit stehen zu tun hat, also der Frage, wo das steht, was man gerne wissen will oder soll. Die Dimension des "Gewusst-wo" beziehungsweise "Gewusst-wie", und Verstehens wird heutzutage oft gleichgesetzt.

Die Zeit, die zur Erlangung eines Verständnisses zur Verfügung steht, schrumpft nämlich ständig, weil wir deutlich mehr kommunizieren. Die digitalen Kommunikationsapparate zwingen uns sogar zu immer mehr Kommunikation. Da aber der Tag immer noch, trotz aller Zeitsparversuche und Zeitmanagementseminare, nur 24 Stunden hat und die Woche sich ebenfalls nicht verlängern lässt, bleibt bei immer mehr Kommunikationszeit immer weniger Zeit für Verständnis. Außerdem muss das Kommunizierte auch immer mehr in immer kürzeren Zeiten verstanden werden per Mail, Chats, Twitter und anderem.

Nutz- und Zweckausrichtung in der Bildung vermeiden

Kurz und schlecht, dieses Problem der Zeitverdichtung und Zeitvernichtung macht sich bei der Frage nach der Veränderung des Bildungsbegriffs natürlich besonders bemerkbar, denn wenn man etwas benötigt beim Bildungsprozess, dann ist es Zeit. Nicht nur gut Ding will Weile haben, auch die Feststellung und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit in Raum und Zeit, in Kultur und Wissenschaft, in Werten und Messwerten, und nichts anderes ist Bildung, all das braucht Grenzfreiheit.

Bildung gelingt nur in einem inneren "Schengen-Raum". Wird dieser Raum eingeschränkt, durch verfrühte Nutz- und Zweckausrichtung, dann wird Bildung zur Ausbildung für den Beruf und damit letztlich für den ökonomischen Imperativ allein. Unter dem Imperativ solcher ökonomischen Randbedingungen wird die oben angedeutete Zeitverdichtung sofort verständlich, denn für den Menschen der Ökonomie ist Zeit Geld. Zeitverdichtung ist dann Geldvermehrung.

"Bildung will und soll zum gedeihlichen Zusammenleben aller Menschen beitragen." Harald Lesch

Bildung will aber viel mehr als Geld, Bildung will und soll zum gedeihlichen Zusammenleben aller Menschen beitragen, indem sie jedem Einzelnen hilft, seine eigene Position in seiner Gruppe und Gesellschaft, in seiner Zeit und seiner Kultur zu finden und zu schätzen und dabei aber auch die Vielfalt all dieser sozialen Strukturen genießen und einordnen zu können. Denn Bildung ist Bewusstsein von Zusammenhängen.

Heute allerdings wird der dafür nötigen Selbsterfahrung kaum noch Zeit gegeben. Die Studentinnen und Studenten müssen sich die Zeit für persönliche Bildung förmlich aus den täglichen Ansprüchen durchorganisierter und durchmodularisierter Studiengänge herausschneiden. Das System gewährt ihnen diese Zeit freiwillig nicht mehr.

Wie wäre es, wenn eine so reiche Gesellschaft wie die unsere, sich mit Universitäten und Hochschulen Räume gönnt, quasi als "Bildungstrainingscamps"; ihrer jungen Generation Gelegenheit gibt, Verstand und Vernunft zu entwickeln und zu trainieren und dabei nicht nur in ökonomisch-technischen Rationalitäten zu verbleiben, sondern sich wirklich zu bilden. Für eine Bildung, die nicht nur bei sich bleibt, sondern sich auswirkt auf das Zusammenleben aller.

Die Herausforderungen für die Zukunft, die sich aus der Gegenwart bereits ablesen lassen – die Folgen der Globalisierung und Digitalisierung, der Klimaschutz und die Klimaanpassung, Ressourcenendlichkeit und globale Gerechitgkeitsdebatten – verlangen ein deutlich gesteigertes Verantwortungs­bewusstsein der akademisch ausgebildeten Bürgerinnen und Bürger. Verantwortung entsteht aber nur durch Wissen von gebildeten Persönlichkeiten. Insofern ist Bildung die Bedingung der Möglichkeit, ein gerechtes und zivilisiertes und da­mit gutes und sinnvolles Leben zu führen. Ich kenne kein wichtigeres Ziel.

1 Kommentar

  • Ralf Wörzberger Lieber Herr Lesch,
    als Bewunderer Ihrer zahlreichen Gedanken in anschaulichen Beiträgen sowie für Ihre Sammlung einprägsamer Aphorismen noch dieses :
    Unterhalten sich zwei Professoren - plötzlich sagt der eine: "Du, das verstehe ich nicht" - meint der andere: "Gut, ich will es dir erklären." Daraufhin der Erste: "Nein danke, erklären kann ich es selber!"

    Herzlichst
    Ihr Ralf Wörzberger
    www.woerzberger.de