Symbolbild "Depresseionen": Menschlicher Kopf mit Regenwolken darüber, blickt nach rechts, dort ist die Sonne.
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Depressionen und Karriere
"Sie würden mir die Krankheit nicht anmerken"

Psychische Erkrankungen können Karrieren verbauen. Andreas Dengel erklärt, wie er nicht trotz, sondern auch wegen seiner Depression Professor wurde.

Von Charlotte Pardey 13.06.2023

Forschung & Lehre: Professor Dengel, fördert die wissenschaftliche Arbeitswelt psychische Erkrankungen?

Andreas Dengel: Ich glaube, dass es in der Wissenschaft viele Risikofaktoren gibt, die schlummernde psychische Beeinträchtigungen verstärken können. Ich selbst hatte schon im Studium Depressionen, aber durch den Leistungsdruck und die Unsicherheit in der Promotions- und Postdoc-Phase haben sie sich deutlich verstärkt. Ich bin dem Leistungsdruck allerdings auch verfallen, was ein Grund dafür ist, dass ich jetzt da bin, wo ich bin. Durch die Depressionen war ich wenig draußen und unter Menschen, da blieb mir viel Zeit für die Wissenschaft. Ich hatte statt einer Work-Life-Balance eher eine Work-Work-Balance und so konnte ich mein Lehramtsstudium in weniger als der Regelstudienzeit schaffen. Nach einem zuvor abgebrochenen Studium und einer nicht realisierten Ausbildung wollte ich unbedingt aufholen. Verschiedene psychische Beeinträchtigungen können wissenschaftliche Karrieren extrem hemmen oder stärken. Für jemanden, der von ADHS betroffen ist, ist die lange konzentrierte Textarbeit ohne aktive Elemente wohl bedeutend schwieriger als für neurotypische Menschen. Umgekehrt hilft eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vielleicht, wenn es darum geht, sich selbst zu präsentieren und zu sagen: "Hey, schaut, wie cool meine Projekte sind, meine Drittmittel, meine Zitationen, mein Hirsch-Index." Depressionen scheinen mir im Wissenschaftskontext weniger klar einordbar zu sein, da sie unterschiedlich wirken und beim aktiven Tun oder aber beim Nichtstun hemmen können. Bei mir ist es eine Mischform: Vor allem wenn ich versuche, zur Ruhe zu kommen, fängt das Gedankenkarussell in meinem Kopf an und dann geht es mir schlecht. So lange ich mit Arbeit ausgelastet bin, ist alles gut, dann funktionieren meine Gedanken. Sie würden mir die Krankheit nicht anmerken.

Portraitfoto von Professor Andreas Dengel. Er ist gerade dabei eine Virtual-Reality-Brille abzusetzen.
Andreas Dengel ist Professor für Informatikdidaktik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. privat

F&L: Inwiefern haben Sie im Verlauf Ihrer bisherigen Karriere offen über Ihre psychische Erkrankung gesprochen?

Andreas Dengel: Die allererste Person, mit der ich überhaupt darüber gesprochen habe, war die Betreuerin meiner Zulassungsarbeit, also des Masterarbeitsäquivalents im Lehramtsstudium, die Entwicklungspsychologin ist. Ich habe meine Beeinträchtigung damals realisiert, sie wurde diagnostiziert und ich habe angefangen, Medikamente zu nehmen. Mir helfen die Medikamente gut. Auch in akuten Phasen weiß ich, dass ich meiner Arbeit nachgehen kann. Ich sehe meine Medikamente mehr wie meine Brille: Wenn ich ohne Sehhilfe herumlaufe, dann finde ich mich in der Welt nicht so zurecht, wie ich das möchte, und das Gleiche gilt für die Medikamente auch. Mit einer Brille sehe ich wie normale Menschen und mit den Medikamenten fühle ich wie normale Menschen. Ich war auch gegenüber meiner Doktormutter und meinem Doktorvater sehr offen, denn wir hatten ein gutes Betreuungsverhältnis. Es war kein Problem, wenn ich mal zwei Wochen keine Kraft für mein Projekt hatte. Es war aber auch klar, dass ich, wenn ich wieder etwas tun konnte, 300 Prozent geben würde. In dieser Zeit habe ich meine Erkrankung aber noch nicht öffentlich gemacht. Ich wusste ja nicht, wie es nach der Promotion weitergeht und wollte meine Verbeamtung nicht gefährden.

F&L: Wann kam das? Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass jemand nicht unterstützend reagiert hat?

Andreas Dengel: Ich muss sagen, dass ich – außer bei Ärzten – meine Erkrankung generell nicht mit dem Wunsch nach einer aktiven Unterstützung teile. Ich möchte nur, dass andere mein Handeln besser verstehen, woran es beispielsweise liegt, wenn ich ein paar Tage nicht auf eine E-Mail antworte. Ich habe meine Depressionserkrankung in meiner Antrittsvorlesung an der Goethe-Universität 2021 öffentlich gemacht. Daraufhin erschien ein Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und da habe ich mal in die Kommentarspalte geschaut, auch wenn ich das sonst nicht mache und mich auch von Sozialen Medien fernhalte. Dort bezweifelte jemand, dass ich mit meiner Erkrankung Professor sein und die Lehrer von morgen ausbilden sollte. Darüber habe ich nachgedacht: Ist das die Sichtweise der Gesellschaft? Und: Ist es richtig, dass ich das tue? Ich hoffe es und glaube, es macht Sinn, meine Erfahrungen weiterzugeben.

F&L: Hinter dem Kommentar steckt, dass psychische Erkrankungen nach wie vor im Arbeitskontext negativ gesehen werden…

Andreas Dengel: Psychische Beeinträchtigungen sieht man nicht. Wenn sich jemand den Arm bricht und einen Gips hat, versteht jeder, dass der Betroffene nicht arbeiten kann. Aber man kann in den Kopf eines anderen Menschen nicht hineinschauen. Es setzt Vertrauen voraus, dass man anerkennt, dass das, was die Person über ihren psychischen Zustand berichtet, auch stimmt, dass es nicht etwa Faulheit oder eine Ausrede ist. Die Grundprämisse müsste sein, dass wir darauf vertrauen, dass jeder Mensch sein Möglichstes tut. Ob wir dies aber wirklich annehmen können, ist fraglich. Im Unikontext gibt es vielleicht mehr Flexibilität als in anderen Branchen. Ich könnte nicht in einem regulären Nine-to-Five-Job arbeiten. Ich weiß, dass ich oft nicht gut schlafe, aber ich kann meine Vorlesungen und Seminare so planen, dass sie erst um zehn Uhr anfangen. Ob man erfolgreich an der Hochschule ist, hängt aber auch von den Personen ab, mit denen man direkt zu tun hat. Ich glaube, dass es noch nicht genug Bewusstsein dafür gibt, welchen Unterschied unterstützende  Rahmenbedingungen machen, die vielleicht bestimmen, ob jemand trotz Erkrankung Karriere machen kann oder in einer psychiatrischen Einrichtung lebt. Ich denke, da kann man auf professoraler Ebene etwas tun, indem man beispielsweise Mitarbeitenden vertraut, dass sie genau das tun, was sie tun können. Das muss man in der Forschung sowieso. Ich beobachte, dass gerade die jüngeren Professorinnen und Professoren wesentlich mehr Verständnis für psychische Erkrankungen zeigen, während ältere – natürlich nicht alle – solche Einschränkungen eher herunterspielen.

"Es gibt nicht genug Bewusstsein dafür, welchen Unterschied unterstützende Rahmenbedingungen machen." Andreas Dengel

F&L: Sie selbst haben eine Initiative gestartet für Doktoranden und Postdoktoranden mit psychischen Einschränkungen…

Andreas Dengel: Die Initiative heißt "Blue;Science". Wir bieten keine Beratungsstelle, sondern eine Austauschplattform für Betroffene und Interessierte. Einmal im Monat finden Workshops zu verschiedenen Themen statt. Gerade sind wir noch in der Gründungsphase, testen, wie unterschiedliche Formate angenommen werden und entwickeln unser Angebot iterativ weiter. Wir haben zum Beispiel kürzlich über Prüfungsversuche und Anwesenheitspflicht diskutiert. Das sind Themen, die erscheinen banal und unabhängig von psychischen Erkrankungen, aber das stimmt nicht. Ich habe aus Dozierendenperspektive erzählt, dass ich anfangs entschieden hatte, keine Anwesenheit zu verlangen, damit Teilnehmende sich bei Bedarf "Mental Health Days" nehmen können. Nach ein paar Semestern stand ich vor dem Problem, dass die Studierenden nicht zu meinen Seminaren kommen, wenn keine Anwesenheitspflicht herrscht. Das sind Dinge, über die man im Austausch Lösungswege finden muss, die für alle Beteiligten funktionieren.

F&L: Sie wurden mit 28 Jahren Professor. Was hat Sie auf Ihrem Karriereweg motiviert? Hatten Sie Angst, zu scheitern?

Andreas Dengel: Ich muss etwas ausholen. In meiner Jugend habe ich viel Zeit in Massive Online Roleplay Games verbracht, also in virtuellen Welten. Die akademische Welt erinnert mich an die Strukturen eines solchen Spiels: Man hat seinen Hirsch-Index, seinen Wissenschaftslevel, seinen Status, alles versucht man zu verbessern und dazu gibt es ganz spezifische Möglichkeiten. Man hat seine hochschulpolitischen Verbände, seine Drittmittel, seine Projekte, seine Zitationen. Es hat mich sehr gereizt, zum nächsten Level zu kommen in der Welt der Wissenschaft. Natürlich hatte ich auch Angst zu scheitern, aber ich glaube, wesentlich weniger als andere. Unter meinen Studierenden beobachte ich aktuell sehr große Ängste, was das Absolvieren des Studiums angeht. Ich dachte mir damals eher, dass alles schon irgendwie werden wird. Nach dem Lehramtstudium hätte ich aber auch immer die Möglichkeit gehabt, ins Referendariat zu gehen. Ich hatte und habe keine großartigen Verpflichtungen oder Verantwortung für Familienangehörige, nur einen Hund und den könnte ich mir auch mit einem kleinen Nebenjob leisten.

F&L: Sehen Sie sich als Vorbild dafür, dass man auch mit einer psychischen Erkrankung in einem kompetitiven Kontext Karriere machen kann?

Andreas Dengel: Mein Weg ist sicher kein Musterweg, der für alle funktioniert. Die unterstützenden Bedingungen habe ich beschrieben. Auf der anderen Seite habe ich davon profitiert, dass die Informatik derzeit auf großes Interesse stößt. Ich wäre an einer ganz anderen Stelle, wenn ich in Politikwissenschaften promoviert hätte. Ich versuche, offen über meine Laufbahn und meine Einschränkung zu sprechen, damit sich andere weniger allein fühlen. Es gibt vielleicht Leute, die Depressionen haben, aber gerne Karriere machen würden. Vielleicht kann meine Geschichte ihnen Mut machen, wenn sie in einigen Punkten anknüpfbar ist, wenn auch nicht in allen.