Im Rückfenster eines Autos steht "CoronAbi 2020", wobei die beiden Nullen Klopapierrollen sind.
picture alliance / Jochen Tack | Jochen Tack

Pandemie-Aufarbeitung
Studie zeigt negative Bildungs-Effekte durch Corona-Politik

Es gibt noch wenige Erkenntnisse über die Folgen der Covid-19-Pandemie. Eine Studie zeigt nun negative Auswirkungen auf Schulleistungen.

04.06.2024

Die Schulschließungen während der Corona-Pandemie sowie die übermäßige Nutzung digitaler Medien der Jugendlichen haben mit zu den stark gesunkenen Schülerkompetenzen in Deutschland beigetragen. Dies ergibt eine aktuelle Analyse des "Instituts der Deutschen Wirtschaft" (IW) im Auftrag der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" (INSM). Die Bildungsforschenden des IW haben die neusten PISA-Ergebnisse sowie weitere internationale Studien ausgewertet und wichtige Einflussfaktoren auf die PISA-Ergebnisse untersucht. 

Die PISA-Studie habe gezeigt, dass zwischen 2012 und 2022 der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die in Mathematik nicht die geforderten Mindeststandards erreichten, von knapp 18 auf fast 30 Prozent angestiegen sei, während sich der Anteil der Top-Performer von fast 18 auf unter neun Prozent halbiert habe. Der Rückgang in den Kompetenzen falle laut PISA-Studie bei den Jugendlichen mit Zuwanderungshintergrund höher aus als bei Jugendlichen ohne Zuwanderungshintergrund, vor allem bei denjenigen aus der ersten Zuwanderergeneration. Diese Entwicklung korreliert damit, dass der Anteil der 15-Jährigen mit Zuwanderungshintergrund von knapp 26 Prozent 2012 auf fast 39 Prozent 2022 angestiegen ist. 

Corona-Schulschließungen zentraler Treiber für Negativ-Trend 

Ein zentraler Treiber für den Negativtrend waren nach den Erkenntnissen der INSM-Studie Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Besonders Kinder aus bildungsfernen Schichten hatten weniger Unterstützung durch die Eltern, konnten dem Fernunterricht schlechter folgen und wurden in geringerem Maße von den Schulen unterstützt. 

Negativ beeinflusst werden die PISA-Schulleistungsergebnisse außerdem, wenn die Kinder und Jugendlichen sehr viele Stunden am Tag mit digitalen Medien wie Videospielen oder sozialen Netzwerken verbringen. Entsprechend weniger Zeit steht dann für andere Aktivitäten wie Schulaufgaben, Lesen oder Sport zur Verfügung. 

Ein wesentlicher Grund für das sinkende Bildungsniveau sind die fehlenden Deutschkenntnisse bei immer mehr Kindern aus Zuwandererfamilien. Der Anteil der zugewanderten Jugendlichen, bei denen zu Hause Deutsch gesprochen wird, ist laut PISA von 72 Prozent im Jahr 2012 auf unter 52 Prozent im Jahr 2022 gesunken. Die Analyse zeigt, dass die fehlenden Sprachkenntnisse auch die Ergebnisse dieser Gruppe im PISA-Test beeinflussen. Solche familiär benachteiligten Jugendlichen wurden von coronabedingten Schulschließungen besonders stark getroffen. 

Die Analyse zeigt auch einen zu erwartenden Anstieg fehlender Schulabschlüsse auf. Vor dem Hintergrund der schlechten Resultate in den letzten Kompetenzvergleichstests, die unter anderem auf die Corona-Pandemie zurückgeführt würden, sei zu befürchten, dass der Anteil von Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss weiter ansteige – mit weitreichenden Folgen: "Aufgrund der negativen Folgen fehlender Schulabschlüsse für die individuellen Erwerbsbiografien aber auch für die Volkswirtschaft als Ganzes ist der Handlungsbedarf in diesem Bereich fortwährend als hoch einzustufen", heißt es dazu in der INSM-Studie. 

Ein deutlicher und kontinuierlicher Einbruch der Studienberechtigtenquote im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie lasse sich bislang jedoch nicht erkennen. Hier seien von vielen Bundesländern die entsprechenden Regelungen für die Schulen angepasst worden, um Nachteile für die Schülerinnen und Schüler durch die Schulschließungen möglichst gering zu halten. So sei es beispielsweise im Prüfungsjahr 2020 beziehungsweise 2021 möglich gewesen, zentrale Elemente aus dem Abituraufgabenpool durch dezentrale Elemente zu ersetzen, die Prüfungstermine hätten für mehr Lernzeit verschoben werden können und die Prüfungshinweise hätten konkretisiert oder die Anzahl der zur Auswahl gestellten Prüfungsaufgaben hätte vergrößert werden können. Diese Regelungen könnten auch dazu beigetragen haben, dass sich die durchschnittlichen Abiturnoten in den Corona-Jahren trotz schwierigerer Bedingungen für die Prüfungsvorbereitung nicht verschlechtert hätten. 

Themen-Schwerpunkt "Corona"

Die Ausbreitung des Coronavirus "Sars-CoV-2" hat nicht nur den Alltag, sondern auch die Wissenschaft und den internationalen Austausch beeinflusst. Was hat sich verändert? Und wieviel weiß die Forschung inzwischen über Corona? Beiträge dazu finden Sie in unserem Themen-Schwerpunkt "Corona"

Deutschland war für Digital-Unterricht schlecht aufgestellt 

Gemäß der "International Computer and Information Literacy Study" (ICILS) sei die Ausstattung der Schulen in Deutschland mit digitalen Geräten im Jahr 2018 deutlich schlechter als im internationalen Durchschnitt gewesen. Deshalb war Digital-Unterricht während der Schulschließungen nur sehr eingeschränkt möglich gewesen. Nur etwa 32 Prozent der Schulen hätten vor der Corona-Krise über eine ausreichende Internetbandbreite und 33 Prozent über eine ausreichende Zahl digitaler Endgeräte verfügt (OECD-Durchschnitt "ausreichende Endgeräte": 60 Prozent).  

Thorsten Alsleben, INSM-Geschäftsführer, kommentiert: "Die Bilanz der Corona-Politik für Kinder und Jugendliche ist verheerend: Sie hat den seit Jahren zu beobachtenden Trend des sinkenden Bildungsniveaus verstärkt und dabei Kinder aus bildungsfernen Schichten noch weiter benachteiligt." Alsleben fordert eine "Zeitenwende in der Bildungspolitik". Hilfreich wäre "gerade mit Blick auf die frappierend schlechten Zahlen unter Kindern mit Migrationshintergrund deswegen verpflichtende Sprachstandstests für alle Vierjährigen und bei denen, die nicht ausreichend Deutsch sprechen, ein verpflichtendes Vorschuljahr". 

"Die Bilanz der Corona-Politik für Kinder und Jugendliche ist verheerend."
Thorsten Alsleben, INSM-Geschäftsführer

Alsleben: "Wenn wir nicht vor Beginn der Schullaufbahn die Chancen der Kinder angleichen, werden sie ihr ganzes Leben benachteiligt sein. Die Kosten, die wir da sparen, werden später um ein Vielfaches höher sein." Deutschland, so Alsleben, verliere in vielen Bereichen den Anschluss an die Weltspitze, seit einigen Jahren auch in der Bildungspolitik. Alsleben: "Bildung ist der Schlüssel, um Deutschland aus der Abwärtsspirale zu holen. Bund und Länder müssen jetzt handeln und vor allem in frühkindliche Bildung investieren." 

Axel Plünnecke, Bildungsexperte des "Instituts der Deutschen Wirtschaft", betont: "Die Ungleichheit der Bildungschancen ist in den letzten Jahren stark gestiegen. Auf Basis von flächendeckenden Vergleichsarbeiten sollten die entstandenen Lücken identifiziert und mit gezielten Fördermaßnahmen geschlossen werden. Gleichzeitig sollten die Teilhabechancen für alle Kinder an digitaler Bildung gesichert werden." 

"Die Ungleichheit der Bildungschancen ist in den letzten Jahren stark gestiegen."
Axel Plünnecke, IW-Bildungsexperte

Die Studie enthält zahlreiche Handlungsempfehlungen für die Schulleitungen und die Bildungspolitik, wie festgestellte pandemiebedingte Defizite ausgeglichen werden könnten. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen darauf ab, die entstandenen Lernlücken zu schließen und langfristig gleiche Bildungschancen für alle Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten. 

Hintergrundinformation zur Studien-Herausgeberin INSM 

Die "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" ist ein überparteiliches Bündnis aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Sie wirbt für die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und gibt Anstöße für eine moderne marktwirtschaftliche Politik. Die INSM wird von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert. Im INSM-Bildungsmonitor 2022 wurde ein massiver Lehrkräftemangel prognostiziert.

Politische Corona-Aufarbeitung noch in der Planungsphase

Die Veröffentlichung der Pandemieprotokolle des Robert Koch-Instituts hat zuletzt die Diskussion um die politische Aufarbeitung angeheizt. Der Rückgang des Bildungsniveaus, ein Anstieg psychischer Belastungen, ein Defizit an sozialen Kompetenzen, mehr Gewalttaten an Schulen sowie Negativtrends im Bereich Gleichstellung von Frauen im Erwerbsleben werden unter anderem bereits in verschiedenen Studien mit der Corona-Pandemie und den erfolgten politischen Maßnahmen in Verbindung gebracht. 

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hatte jüngst laut Deutscher Presseagentur in konkreten Bereichen der Pandemie-Politik Aufklärung zugesagt. Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) spreche sich für eine Aufarbeitung der Corona-Politik der Pandemiejahre aus, ferner gebe es Forderungen für eine Enquete-Kommission im Bundestag. Für ihre Einsetzung muss ein Viertel der Mitglieder des Bundestages stimmen. Ein solches Gremium kann umfangreiche Empfehlungen für die Gesetzgebung zu wichtigen gesellschaftlichen Themen vorbereiten oder - im Fall Corona - Empfehlungen für den Umgang mit künftigen Pandemien. Bislang gibt es noch keine Einigung über das politische Format der Aufarbeitung. 

Kürzlich haben Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), sowie der Virologe Professor Hendrik Streeck, Direktor des virologischen Instituts der Universität Bonn, gegenüber dem "Tagesspiegel" betont, dass die politische Aufarbeitung der Pandemie seitens der Regierungskoalition dringend geboten sei, um im Falle einer ähnlichen Krise besser aufgestellt zu sein. Im Zuge einer Corona-Aufarbeitung sprach sich Streeck laut dpa gegen die aktuell geplante "Zerschlagung" des zuständigen Robert-Koch-Instituts (RKI) aus. Allmendinger erinnerte daran, dass es in der Wissenschaft längst ausführliche Betrachtungen der Pandemie und auch Empfehlungen für die Politik gebe, diese aber noch kaum politisches Interesse fänden.

cva