Auf weißem Hintergrund ist das Wort "Demokratie" in Schwarz geschrieben. Das Papier scheint schon mal zerissen gewesen zu sein und wurde notdürftig geklebt.
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Rechtsextremismus
Die äußersten Rechten und die Wissenschaft in Deutschland

Interview mit Dr. Dieter Rucht und Dr. Matthias Quent zum Thema Rechtsradikalität gestern und heute. Wie ist die Wissenschaft tangiert?

Von Katharina Finke 18.03.2024

Mit "Forschung & Lehre" sprechen Dr. Dieter Rucht, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, und Dr. Matthias Quent, Professor für Soziologie und Vorstandsvorsitzender des Instituts für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal, darüber, welche Zusammenhänge zwischen deutschen äußersten Rechten früher und heute bestehen und was das für die Wissenschaft in Deutschland bedeutet und zukünftig bedeuten könnte. 

Forschung & Lehre: Herr Rucht, derzeit ziehen einige Leute aufgrund der politischen Situation Parallelen zur Weimarer Republik – Sie auch? 

Professor Dieter Rucht: Mit der Annahme, dass wir in Richtung Weimarer Verhältnisse tendieren, wäre ich sehr zurückhaltend. Denn in Weimar war die Grundkonstellation eine andere: Es gab eine schwache Mitte und einen relativ starken rechtsradikalen und linken Flügel, wobei letzterer durch die Differenz von Sozialdemokraten und Kommunisten geschwächt war. 

Zudem gab es massive ökonomische Probleme: galoppierende Inflation und Arbeitslosigkeit. Das hat dazu geführt, dass sich Rechte und Linke auf den Straßen regelrecht bekriegt haben und eine Mitte als kompakter Block nicht mehr vorhanden war. Heute haben wir eine kompakte und solide Mitte, die allerdings politisch unter Stress gerät und deswegen in die ein oder andere Richtung tendiert. Seit den 1990er Jahren gibt es zudem eine allmähliche Stärkung rechtsradikaler Gruppen. Die verläuft nicht kontinuierlich, sondern in Wellen, bedingt durch äußere Anlässe. In der Summe bedeutet das, dass rechtsradikale Gruppen stärker werden und zunehmend selbstbewusster auftreten.

Ein Mann mit dunkelblondem, kurzem Haar und Brille ist im Porträt zu sehen
Dr. Dieter Rucht, emeritierter Professor für Politikwissenschaft Privat

F&L: Sie sprechen von äußeren Anlässen, welche die rechtsradikalen Gruppen gestärkt haben, können Sie das konkretisieren? 

Dieter Rucht: Es ist inzwischen so, dass von rechter Seite aus thematisch vieles aufgegriffen werden kann, was zunächst nichts mit einem rechten Weltbild zu tun hat, aber für diesen Zweck genutzt und instrumentalisiert wird. Das liegt an der diffusen Grundstimmung verbreiteter Unzufriedenheit, die nicht schon rechtsradikal ist, sondern auf dem populistischen Bild beruht: die da oben und wir da unten. 

Die da oben, das sind die (Kultur)-Eliten, die Lügenpresse und so weiter, die um sich selbst kreisen, aber die die reale Lebenslage der Bevölkerung nicht kennen und sich dafür auch nicht interessieren. Die da unten, das sind "wir", was oft mit dem Volk oder der Bevölkerung gleichgesetzt wird. Dieses Denkmuster hat sich verbreitet und kann jeweils aktiviert werden für aktuelle Themen, wie Corona oder die Klimakrise beispielsweise. 

Das ist anders als zu Zeiten des Nationalsozialismus. Damals gab es eine Lagerbildung und -bindung; da wurden Eliten nicht per se abgelehnt oder kritisch gesehen wie heute, sondern lediglich die Eliten der Gegenseite.

Professor Matthias Quent: Ideengeschichtlich sehe ich allerdings Parallelen, da sich die Neue Rechte mit Spengler oder Moeller van den Brock sehr stark in faschistoide Traditionslinien begibt. Die mit ihrer Kulturkritik, der Ablehnung der Moderne und des Liberalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts und teilweise schon früher bei der Vorbereitung der kulturpessimistischen Stimmung und im Antisemitismus eine große Rolle gespielt haben. Das ist das historische Vorbild der Neuen Rechten. 

Nationalismus ist wichtig für sie als Abgrenzung von Globalisierung generell, von globaler Verantwortung in ökologischen Fragen und Einbindung in multilaterale Systeme sowie der Krisen und kriegerischen Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten. Das unterstreichen sie mit Aussagen wie: Warum sollen wir dafür zahlen? Das ist nicht unser Krieg. Und Forderungen der AfD, wie dem Rückzug aus internationalen Kooperationen. Ihr Ziel ist es, Nationalismus zu normalisieren, der in Deutschland aufgrund der Geschichte spezifisch besetzt ist. Die Abgrenzung zur Vergangenheitsaufarbeitung ist eine notwendige Voraussetzung, um den deutschen Nationalismus wieder zu reaktivieren. Entweder durch Rechtfertigung und Verharmlosung der Geschichte (Beispiel "Vogelschiss") oder über Bande der Schlussstrichmentalität.

"Ihr Ziel ist es, Nationalismus zu normalisieren, der in Deutschland aufgrund der Geschichte spezifisch besetzt ist."
Matthias Quent, Professor für Soziologie

F&L: Was bedeutet Schlussstrichmentalität? 

Dieter Rucht: Es gibt bei einigen Leuten schon lange die Tendenz, die Vergangenheit abschütteln zu wollen, einen Schlussstrich zu ziehen und nicht immer wieder über Konzentrationslager und den Nationalsozialismus sprechen zu müssen. Indem man versucht, da Ruhe zu schaffen, will man sich von den Negativassoziationen hinsichtlich des Nationalsozialismus befreien und einen neuen Nationalismus propagieren. 

Deswegen nennen sie sich auch Neue Rechte, um zu zeigen: Wir haben mit der Historie wenig zu tun und wir starten bei null, obwohl es gezielte Ambivalenzen gibt. Es wird betont, man sei nicht ausländerfeindlich, sondern steht für kulturellen Pluralismus. Aber jede Ethnie solle in ihrem Land bleiben. Dann werden Begriffe aus der Wissenschaft übernommen, um scheinbare Neutralität herzustellen, wie beim Stichwort der Remigration. In Wirklichkeit stehen dahinter alte Vorurteile in neuen Verpackungen.

F&L: Kann so etwas nicht auch abschreckend sein für Wählerinnen und Wähler? 

Matthias Quent: Ja für einen Teil, aber für einen anderen Teil ist die Frage, was die intrinsische Motivation ist, die AfD zu wählen. Für viele hat der Nationalsozialismus keine unmittelbare Bedeutung mehr. Es sind andere Gründe, wie die Migrationspolitik, Ablehnung der ökologischen Transformation oder Kritik an den politischen Verhältnissen, die dann radikalisiert werden. 

Vor allem der nicht radikalisierte Teil der AfD-Wählerschaft ist sehr gut darin "Cherry-Picking" zu betreiben. Bedeutet: Dinge in Kauf zu nehmen oder nicht zu sehen, nicht sehen zu wollen, zu relativieren oder in Abrede zu stellen. Ein gutes Beispiel dafür ist ihre Haltung zu den derzeitigen Protesten gegen Rechtsextremismus: Es sei nur eine Hysterie der Medien, des Establishments und die sollten es endlich mal lassen, ständig die Nazikeule rauszuholen, darum würde es derzeit nicht gehen – so argumentiert die äußerste Rechte.

Ein Mann mit hellblauem Hemd, braunem Haar und Brille ist im Porträt zu sehen.
Dr. Matthias Quent, Professor für Soziologie und Vorstandsvorsitzender des Instituts für demokratische Kultur an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Sio Motion

F&L: Wie stehen die äußersten Rechten zur Wissenschaft? 

Matthias Quent: Es gibt bei ihnen in der Regel keine differenzierte Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Themen. Stattdessen findet eine verkürzte, propagandistische Verdrehung statt. Ein Beispiel dafür ist die Rassismus-Definition. Mit "Rassismus gegen Weiße" dreht die AfD aktuelle Diskurse um, aber definitorisch ist das aufgrund der historischen Machtdimension, die hinter Rassismus steht, nicht möglich. 

Natürlich gibt es Vorurteile und Benachteiligung nicht nur gegen Minderheiten, aber das ist etwas anderes als Rassismus. Wenn es nicht mehr um diese Feinheiten geht, weil sie in der öffentlichen Wahrnehmung zu komplex sind, fühlen sich einige herausgefordert oder bedroht – dadurch wachsen Ressentiments. Wissenschaft und Forschung werden häufig als eine Chiffre für "Eliten", "Globalisten" und als "abgehoben" gesehen. Schon jetzt, ohne dass die AfD an der Regierung ist, sieht man, wie die äußerste Rechte die Wissenschaft, den Begriff Erkenntnis oder die Suche nach der größtmöglichen Wahrheit in Frage stellt. Es äußert sich bei Angriffen auf Klimaforschung, genderkritische oder virologische Forschung, wie zuletzt bei Corona. Es gibt eine Strategie, die Reputation und Glaubwürdigkeit von Wissenschaft zu untergraben und abzulehnen. Teils werden dazu eigene Pseudoexperten aufgebaut. 

"Es gibt eine Strategie, die Reputation und Glaubwürdigkeit von Wissenschaft zu untergraben und abzulehnen."
Matthias Quent, Professor für Soziologie

Dieter Rucht: Es ist wichtig dabei zu differenzieren, weil es kein einheitlicher Block ist. Es sind teilweise sehr unterschiedliche Leute, was ihre Weltsicht und Einstellungen angeht. Es gibt einen harten, rechtsradikalen Kern, der für Fakten und Argumente unzugänglich ist. Selbst wenn sie sich in Diskussionen begeben, ist es lediglich eine Darstellung von Positionen. Statt Überzeugungskommunikation ist es ein ritualisierter Akt, um den eigenen Standpunkt zu festigen. 

"Es gibt einen harten, rechtsradikalen Kern, der für Fakten und Argumente unzugänglich ist."
Dieter Rucht, emeritierter Professor für Politikwissenschaft

Daneben gibt es auch Mitläufer, die noch zögerlich und ambivalent sind. Sie finden, dass die Rechten nicht ganz Unrecht haben, auch wenn sie nicht mit allen rechten Forderungen einverstanden sind. Aber sie fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von der etablierten Politik benachteiligt und wechseln deswegen die Seite mit der Einstellung: Jetzt zeig' ich es ihnen! Hinzukommen die situativen Protestwähler. Diese beiden Gruppen sind ambivalent, nicht ideologisch gefestigt und deswegen ansprechbar. Genau mit ihnen sollte eine inhaltliche Debatte geführt werden. Und da kommt der Wissenschaft eine entscheidende Rolle zu, dass sie sich nicht abkapselt, sondern in die öffentliche Auseinandersetzung geht, ihre Forschung präsentiert und sich der Kritik an Wissenschaft aussetzt. Das ist in meinen Augen ein dezidierter Auftrag der Wissenschaft, zumal sie überwiegend durch öffentliche Gelder finanziert wird. Sie soll ihr Wissen und ihre Kritik an Gesellschaft in den öffentlichen Dialog einspeisen, anstatt sich hinter dem Postulat der Wertfreiheit zu verstecken. 

F&L: Werden die äußersten Rechten, wenn sie an die Macht kommen, in die Wissenschaftsfreiheit eingreifen? 

Matthias Quent: Das ist zu erwarten. Wahrscheinlich würde eine AfD, wenn sie an der Regierung ist, versuchen, die Autonomie von Hochschulen, sprich Forschung und Lehre, einzuschränken. Schon jetzt wird versucht, Forschung zu bestimmten Themen zu unterbinden und an den Pranger zu stellen, wie beispielsweise Genderforschung oder Klimaforschung. In Thüringen hat die AfD gerichtlich versucht, die Gleichstellungsbeauftragten als Teil der universitären Selbstverwaltung zu schleifen. 
 

"Wahrscheinlich würde eine AfD, wenn sie an der Regierung ist, versuchen, die Autonomie von Hochschulen, sprich Forschung und Lehre, einzuschränken."
Matthias Quent, Professor für Soziologie

Mit Förderprogrammen und den Ziel- und Leistungsvereinbarungen mit den Hochschulen könnten sie direkten Einfluss nehmen. Natürlich hängt das alles auch davon ab, in welchem Bundesland, in welcher Koalition und mit welchen Einflussmöglichkeiten Rechtsextreme an die Macht kommen. Und es ist auch denkbar, dass ein erster Durchgang im Sinne der Normalisierungs-Strategie zunächst relativ unauffällig verläuft, auch aus Mangel an Sachkenntnis. Und sie erst aktiv werden, wenn durch wachsenden Einfluss in weiteren Bundesländern die Möglichkeit besteht, noch mehr Einfluss zu bekommen, wenn das Schreckensgespenst, das mit der AfD verbunden wird, noch weiter gefallen ist. Es hängt zudem davon ob, wie sich die Ministerialbeamten verhalten und ob sie sich Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit aktiv in den Weg stellen, wovon ich ausgehe. 

F&L: Professor Rucht, würden Sie auch davon ausgehen, dass Teile der Bevölkerung in der Bundesrepublik versuchen würden, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen? 

Dieter Rucht: Ja, denn ich glaube, dass in den Jahrzehnten seit der Existenz der Bundesrepublik ein gewichtiger Teil der Bevölkerung sich nicht nur verbal als demokratisch versteht, sondern diese Werte verinnerlicht hat und bereit ist, sich dafür zu engagieren. Das zeigen auch die aktuellen Proteste. Die Menschen haben den Eindruck: Jetzt wird es allmählich ernst; wir können das nicht zulassen und stillschweigend zusehen. Es gibt ein starkes zivilgesellschaftliches Potential, das aktivierbar ist und mit wachsender Bedrohung auch zunimmt. 

Es wächst auch die Bereitschaft, durch physische Präsenz und konkrete Interventionen zu versuchen, antidemokratischen Aktionen Einhalt zu gebieten. Es gilt auch, die Wissenschaftsfreiheit zu verteidigen. 

F&L: Was sollte jetzt schon seitens der Wissenschaft getan werden, um die anti-demokratische Einflussnahme der äußersten Rechten zu verhindern? 

Matthias Quent: Die Stärkung der Freiheit und Selbstverwaltung der Hochschulen ist wichtig. Die ist den äußersten Rechten ein Dorn im Auge, weil sie als ein "links-grün-versifftes Überbleibsel" der 68er gesehen wird und versucht wird, diese zu reduzieren und unter stärkere politische Kontrolle zu stellen. In die Hände spielen könnte den Rechtsextremen die starke Abhängigkeit des Forschungsbereichs von Drittmitteln. Bedeutet: Sie könnten befristete Projekte einfach auslaufen lassen und nicht mehr weiterfördern. 

Da wird es wahrscheinlich keine große Empörung geben, weil es normal ist, dass manche Projekte nicht weiter finanziert werden. Die äußerste Rechte könnte das nutzen, um die Themen, die sie nicht mehr wollen, hinten runter fallen zu lassen. Auch deswegen wäre es wichtig, dass Forschung unabhängiger wäre und es mehr Strukturförderungen gibt. Wichtig ist auch, dass man sich auch auf der Verwaltungsebene wertebezogen mit potentiellen Gefahren auseinandersetzt und den demokratischen Zusammenhalt stärkt. 

Dieter Rucht: Ich glaube nicht, dass die Abwehr von einer Stelle aus initiiert werden kann. Die Wissenschaft agiert dezentral. Auch wenn es Verbandsstrukturen und Fachvereinigungen gibt, die ebenfalls gefragt sind, aufzuwachen und sich zu positionieren. Die Wissenschaft hat da eine große Verantwortung: Sie sollte nicht nur innerwissenschaftlich ihr Unbehagen äußern, sondern sich in die öffentliche Auseinandersetzung begeben. Viele Forschende fühlen sich verpflichtet, politisch absolut neutral zu sein. Das erscheint mir allerdings als problematisch. Denn weder Wissenschaft noch Journalismus können und sollen völlig neutral sein. Es ist unvermeidlich, eine Position zu beziehen.

"Viele Forschende fühlen sich verpflichtet, politisch absolut neutral zu sein. Das erscheint mir allerdings als problematisch." 
Dieter Rucht, emeritierter Professor für Politikwissenschaft

Dafür gibt es viele Beispiele. Ein Beispiel ist Sprache. Sie ist nicht neutral. Es macht einen Unterschied, ob ich von freier Marktwirtschaft oder Kapitalismus, ob ich von einem ungeborenen Kind oder einem Fötus spreche. Auch die Wahl eines Forschungsgegenstandes ist eine wertgebundene Entscheidung. Ich plädiere dafür, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit einer wertgebundenen Grundhaltung positionieren. Es gibt schon länger genügende Anlässe, um sich zu positionieren und bestimmten Entwicklungen entgegenzustellen. Wir sollten einen wachen Blick auf gesellschaftliche Fehlentwicklungen richten, uns nicht zurücklehnen. Die Wissenschaft und die Demokratie müssen geschützt werden.