Sirene auf einem Dach vor einer städtischen Skyline
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Katastrophenforschung
"Nichts ist sicher"

Wie können wir uns vor Katastrophen schützen? Die Antwort erfordert ein Umdenken im Umgang mit Krisen, meint unser Autor und fordert mehr Forschung.

Von Martin Voss 29.07.2021

Über 180 Tote, Schäden in Milliardenhöhe. Dass Krisen und Katastrophen lohnenswerter Forschungsgegenstand sind, das drängt sich angesichts der Bilder aus den Hochwassergebieten mitten im zweiten Pandemiejahr auf. Aber ein den Herausforderungen angemessenes Forschungszentrum gibt es weder hierzulande, noch weltweit. Ein Weckruf.

Für Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler lautet die alles zentrierende Frage, wie Gesellschaft überhaupt möglich ist. Nur wenige fragen hingegen danach, was bleibt, wenn Gesellschaft zerfällt. Lars Clausen, Soziologe und Gründer der Katastrophenforschungsstelle (KFS) an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, interessierte genau dies. Seine Antwort: Nichts ist dem Menschen sicher, Kultur als Bedingung des modernen Menschseins ist fragil. Lars Clausen zeigte, wie diese kulturellen Grundlagen katastrophal zersetzt werden können, eigens durch den Menschen selbst. Sogenannte "Naturkatastrophen", "Technikkatastrophen" und so weiter mit einem definierten Anfang und Ende, mit einer bestimmten räumlichen Ausdehnung, mit erwartbaren Verlaufsformen, diese Art Katastrophen sind für ihn längst noch nicht das Schlimmstmögliche und dies ins Bewusstsein zu heben, darin sah Clausen die allererste Aufgabe der Katastrophenforschung.

Hinter dem, was wir hierzulande als Katastrophe aus der jüngeren Vergangenheit kennen, lauert stets die noch viel größere, erstere ist nur deren Symptom. So lange sich der Bevölkerungsschutz nur auf diese Symptome richtet, bleibt er blind für die ihnen ursächlich zugrunde liegenden Veränderungen in der Gesellschaft, die vielleicht eine Weile durch kleinteilige Maßnahmen oder technische Innovationen aufgefangen, die aber schließlich in durchaus sehr kurzer Zeit derart manifest werden können, dass alle Korrekturversuche dann nur mehr ins Leere laufen, weil die Fundamente der Ordnung, also letztlich auch des Bevölkerungsschutzes selbst nicht mehr tragen. Wenn sich aktuell ein Unbehagen ausbreitet, eine "Krisenstimmung", dann sollte das der Moment sein, nach den tieferliegenden Ursachen zu fragen. Das spricht die Sozialwissenschaften an.

"Dass wir hier noch immer in die falsche Richtung schauen, zeigt die öffentliche Debatte der jüngsten Katastrophe."

Katastrophen sind ein Kultur-, Organisations- und Ressourcenproblem. Nicht die Gefahr "dort draußen", sondern wie wir die Welt betrachten und die Ressourcenausstattung und -verteilung "hier drinnen", in der Gesellschaft selbst, geben den Ausschlag, ob ein Geschehen zur Katastrophe wird oder nicht. Dass wir hier noch immer in die falsche Richtung schauen, zeigt die öffentliche Debatte der jüngsten Katastrophe in Deutschland, die eben keine über eine Gesellschaft von außen hereinbrechende Naturkatastrophe ist, nicht das Resultat einer extremen Wetterlage, sondern das Produkt eines jahrzehntelangen Prozesses der Gestaltung eines Kulturraumes (Siedlungspraktiken, Landnutzung, Bauweisen, et cetera), kurzum: ein gesellschaftliches Konstrukt, das dem (grundsätzlich absolut vorhersehbaren) Zusammentreffen mit den extremen Niederschlägen nicht standhielt, ergo: eine Kulturkatastrophe. Die Gesellschaft hätte das kommen sehen können – warum hat sie es nicht sehen wollen? Das ist die sozialwissenschaftliche Frage und diese Frage sollte auch Andere interessieren.

Ist es an der Zeit für ein adäquates Forschungszentrum?

Aber das Interesse war bis dato nicht eben riesig. Nach Ende des "Kalten Krieges" zeigte sich, dass Bevölkerungsschutz in Deutschland fast ausschließlich auf den Schutz der Bevölkerung im Verteidigungsfall und nur als Begleitprodukt auch auf den Katastrophenschutz ausgerichtet war. Eingelagerte Materialien wurden als Hilfslieferungen in den Osten geschickt, Sirenen großflächig abgebaut, das zuständige Amt ganz abgeschafft. Nach 2001 folgte dann die sukzessive Kehrtwende, aber bis heute hat die Ausstattung des Katastrophenschutzes in Deutschland nicht das Niveau von vor 1989 erreicht, während die Herausforderungen sich diversifiziert haben. Auch eine diesen angemessene Krisen- und Katastrophenforschung hat sich bis heute nicht etablieren können. Das breit angelegte Sicherheitsforschungsprogramm des BMBF seit 2007 und die EU-Rahmenprogramme förderten zahlreiche Drei-Jahres-Projekte, in denen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler unter schwierigen Bedingungen (eindrücklich beschrieben unter dem Hashtag #IchbinHanna) zu aktuellen Fragen auch zum Bevölkerungsschutz arbeiten konnten.

Während die Arbeiten in Kiel sich auf die Soziologie begrenzten, war es der KFS nach dem Umzug an die FU Berlin im Jahr 2011 damit möglich, in zahlreichen Projekten mit einem sozial- und geisteswissenschaftlich interdisziplinären Team das ganze Spektrum sozialwissenschaftlicher Krisen- und Katastrophenforschung angehen zu können, angetrieben von der Überzeugung, dass Katastrophen als komplexe soziale Prozesse zu begreifen seien, um ihnen effektiv entgegentreten zu können. Aber das, was wir (auch andere Institute, zum Beispiel in Köln, Wuppertal oder Freiburg mit einer Ausrichtung in der Katastrophenforschung arbeiten unter den gleichen Bedingungen) mit eingeworbenen Drittmitteln ohne eigene Stellenausstattung tatsächlich leisten können, bleibt begrenzt und wird der Herausforderung nicht annähernd gerecht.

"Was wir leisten können, bleibt begrenzt und wird der Herausforderung nicht annähernd gerecht."

Die hintergründigen Prozesse, die "root causes", wie man im Fachjargon sagen könnte, lassen sich derart nicht begreifen! Mit den begrenzten Mitteln, die dem Forschungsfeld zugestanden werden, lässt sich andeuten, wo Lücken sind und was möglich ist, nicht nur an Gefahren, sondern auch an gesellschaftlicher Katastrophen-vorbeugung, aber Gehör findet all dies nur, wenn die Gesellschaft es denn hören will. Wenn sie dies will, dann kann sie schließlich nach einem Forschungszentrum fordern, dass sich diesen Fragen nun im adäquaten Umfang zuwenden kann. Vielleicht ist jetzt der richtige Zeitpunkt, darüber zu sprechen.

Welche Reaktionen sind im Bevölkerungsschutz zu erwarten?

Was kommt dabei heraus, wenn man die jüngsten Ereignisse aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen Katastrophenforschung betrachtet? Wenn nun wieder einmal gefragt wird, ob Deutschland vorbereitet war auf diese Katastrophe, ob besser hätte gewarnt werden können, welche Lehren die Politik, Behörden, Verwaltungen und Organisationen des Bevölkerungsschutzes ziehen sollten, was die Bevölkerung selbst tun kann oder soll, um sich zukünftig besser zu schützen, dann werden die Antworten Vieler lauten:

Ja, Deutschland war besser vorbereitet auf so ein Ereignis als viele andere Länder der Welt. Die Architektur des Bevölkerungsschutzes hat sich im Grunde bewährt, andere Zuständigkeiten hätten den Schaden vermutlich nicht maßgeblich vermindert. Ein Schatz ist das große freiwillige Engagement. Die Warnkette hat im Wesentlichen funktioniert, aber die Sirenen sollten wieder flächendeckend aufgebaut und Cell Broad Cast als lange vorhandene Option auch in Deutschland umgesetzt werden. Man wird wieder an die Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger appellieren, dass der Selbstschutz zu erhöhen ist und wiederholen, dass sie auch mal für längere Zeit, vielleicht sogar Wochen, ganz auf sich allein gestellt sein könnten.

In diesem Sinne werden die Diskussionen in den nächsten Wochen und Monaten laufen und am Ende wird das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) über mehr finanzielle und personelle Ressourcen verfügen und als "Gemeinsames Kompetenzzentrum" und "Zentralstelle" bezeichnet werden, weil dort nun Vertreterinnen der Hilfsorganisationen häufiger ein- und ausgehen und ein Stück weit enger zusammenarbeiten. Es werden Materialbevorratungen insbesondere für gesundheitliche Lagen und den Massenanfall von Verletzten im Land und die Notstromversorgung ausgebaut sowie die Trinkwasserversorgung über das bestehende Trinkwassernotbrunnensystem saniert. Kampagnen zur Stärkung des Ehrenamtes werden sich an die breite Öffentlichkeit richten und der Appell an die Länder wird nochmals bekräftigt, dem Bund aussagekräftige Daten über die vorhandenen Ressourcen und Ausstattungen zu liefern und so weiter.

Im Wesentlichen lässt sich meines Erachtens prognostizieren, in welche Richtung die Reaktionen laufen werden und damit auch, dass sie nicht an den Grundproblemen ansetzen, die uns auch bei der nächsten Katastrophe nur über ihre Symptome begegnen.

Wie kann ein ganzheitliches Krisenmanagement gelingen?

Was sind die Grundprobleme? Zum Beispiel, dass der Bevölkerungsschutz die Gesellschaft nicht versteht, zu deren Schutz er beitragen soll. Die heterogene Bevölkerung ist ihm weitgehend fremd, er kennt sie nur als Masse. Und was (Leib und Leben, die Psyche oder gar die Seele, Eigentum, die Rechtsordnung, die Freiheit, der Lebensstil…?) soll denn eigentlich vor was (Naturgefahren, Technik, Finanzmarktspekulationen, Künstliche Intelligenz…?) geschützt werden und was ist der Gesellschaft dieser Schutz an Aufmerksamkeit, Zeit und Geld wert? Woher wollen wir das Geld dafür nehmen – weniger in die Bildung investieren oder Unternehmen besteuern?

"Was soll eigentlich vor was geschützt werden?"

Diese Fragen sind zu klären, erst dann lässt sich bewerten, ob im Katastrophenfall der von der Gesellschaft gewollte und auch entsprechend finanzierte Zivil- und Katastrophenschutz (respektive die ihm zuzurechnenden Behörden, Organisationen und Akteure) tat, was er tun konnte hinsichtlich der ihm angetragenen Aufgaben und Mitteln. Ohne Antworten auf diese Fragen kann kein ganzheitliches, integriertes, auf Prävention und Nachhaltigkeit gerichtetes Katastrophenrisikomanagement entstehen, es muss punktuell nachsorgend bleiben, stets den schwarzen Peter suchend, um so schnell wie möglich wieder zum ansonsten unhinterfragten Alltag zurückkehren zu können. Nur wenn wir offen darüber sprechen, was uns gefährdet und wie weit der Katastrophenschutz reicht, können wir auch über Informations- und Warnlücken sinnvoll reden. Die beste Technologie hilft nicht, wenn Warnungen nicht gesendet werden aus falscher Angst vor Panik oder wenn die Behörden nicht senden, was die Menschen anspricht. Das reine Vorhandensein von Cell Broad Cast beantwortet nicht die Frage, wie wir alle, die eine Nachricht erreichen soll, auch dazu motivieren, sie auf sich zu beziehen und entsprechend zu handeln.

Vieles Weitere wäre zu nennen, dazu fehlt hier der Raum, auf einen jüngst erstellten Arbeitsbericht sei verwiesen (Voss 2021). Aber eines scheint mir besonders offensichtlich: Ein System, dessen Schwachstellen sich in Katastrophen offenbaren, kann sich nicht aus sich selbst heraus kurieren. Behörden und Organisationen sollten (und können) sich nicht selbst evaluieren, die Politik sollte nicht im Hinterzimmer situativ darüber entscheiden, wer sie zu welchen Fragen berät oder wen sie mit Forschung zum Schutz der Bevölkerung beauftragt. Das sind in sich geschlossene Kreise, die Kritik am Grundlegenden kaum zulassen.

Wie ginge es anders? Ein unabhängiges Forschungs- und Beratungszentrum sollte die Wissensstände zusammentragen, Zustände evaluieren, Lücken identifizieren und sie durch eigene Forschungen schließen, es sollte fortlaufend und nicht nur direkt nach einer Krise oder Katastrophe an Szenarien orientiert immer differenziertere Antworten generieren, die in die jeweilige Zeit und zu den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen und Ansprüchen passen. Ein solches Zentrum wäre eine Kontrollinstanz auf der einen, eine verlässliche, neutrale Informations- und Beratungsinstanz auf der anderen. Binnen kürzester Zeit könnte dieses Zentrum stehen – wenn die Gesellschaft es denn einfordert.

Weitere Literatur

Vom Autor sind zum Thema kürzlich ein Arbeitsbericht zu Schlussfolgerungen und "Lessons to learn" aus der Corona-Krise und ein Konzept für ein zukunftsfähiges "Forschungszentrum Resilienz und Schutz der Bevölkerung" erschienen.