Premierminister Boris Johnson winkt vor der Downing Street Nr. 10
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Populismus
Das "Phänomen Johnson"

Der Populist Boris Johnson hat es zum Premierminister gebracht. Zwei Politikwissenschaftler geben Einblicke in den weltweiten Erfolg des Populismus.

Von Claudia Krapp 01.08.2019

In Großbritannien wurde kürzlich Boris Johnson zum Parteivorsitzenden der Konservativen und damit zum neuen Premierminister gewählt. Johnson, der zur britischen Upper-Class zählt, gibt sich gerne bürgernah und überzeugte mit einfachen Botschaften, aber ohne detailliertes Konzept. Er ist damit ein Paradebeispiel eines Populisten.

Der Politikwissenschaftler Professor Thomas Noetzel, der an der Uni Marburg über Populismus forscht, sieht diesen als strategische politische Bewegung: "Populismus greift Statusverluste und -ängste spezifischer Bevölkerungskreise auf, überformt diese und leitet daraus einfache Strategien der Rettung ab." Gesellschaftliche Veränderungen sind wesentlich für den Erfolg des Populismus. "Individualisierte Lebensstile, die Zuwanderung, im Grunde alles, was man auch Globalisierung nennen könnte."

Populistische Bewegungen greifen diese 'Bedrohungen' auf. "Veränderungen in der Weltwirtschaft haben neue Verlierer- und Gewinnergruppen generiert", erklärt Professor Philip Manow, Politikwissenschaftler an der Universität Bremen. Populisten repräsentierten dabei zumeist die Verlierer oder diejenigen, die unter den veränderten Bedingungen etwas zu verlieren haben.

Johnson ist nicht der einzige Politiker, der mit simplen Versprechen auf Wählerfang geht. Auch Trump (USA), Salvini (Italien) und Orbán (Ungarn) konnten mit Einfachheit überzeugen. In großen Teilen Europas sind links- oder rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch, in Spanien beide gleichzeitig (Vox, Podemos). In Österreich regierte bis vor Kurzem noch die FPÖ, in Griechenland die SYRIZA. In Deutschland ist die AfD bei der Bundestagswahl 2017 drittstärkste Partei geworden. Weltweit wurden in den letzten Jahren ähnliche politische Charaktere in machtvolle Positionen gewählt. Die Zahl der autoritären Regime steigt.

Auch Philip Manow sieht im Populismus einen weltweiten Trend: "Populismus ist ein Phänomen, das unabhängig von spezifischen Landes- und Kulturhintergründen funktioniert: von Bolsonaro (Brasilien) oder Erdogan (Türkei) bis Wilders (Niederlande) oder Modi (Indien). Die jeweiligen Forderungen und Positionen sind andere, der Stil und der Angriff auf die 'etablierte' Politik und das Establishment sind dieselben."

Heilsversprechen für das 'Volk'

Populistische Führerinnen und Führer treten gerne bodenständig und unelitär auf. "Obwohl diese Authentizität immer konstruiert ist, klassifizieren sich darin Visionen eines wiedererstarkten Volkes", sagt Noetzel. Die bestehenden Polit-Strukturen sind weltweit festgefahren, neue links- und rechtspopulistische Bewegungen versprechen Abhilfe.

"Die Stichpunkte sind 'America first', 'Make America great again'. Bei Johnson ist es das "goldene Zeitalter" des Wiederaufstiegs Großbritanniens. Le Pen in Frankreich setzt an den gleichen Punkten an: Niedergang Frankreichs, Gefühl des Abgehängtseins. Dieses Muster des vermeintlichen oder tatsächlichen Abstiegs und die Ideologie des Wiederaufstiegs, das zeichnet alle populistischen Bewegungen aus", so Thomas Noetzel.

Dabei eint Populisten die Sehnsucht nach einer überschaubaren Welt. Angesichts der Globalisierung führt dieser realitätsferne Wunsch dazu, dass Populisten komplexe Zusammenhänge vereinfachen. Diesen Vorwurf kann man, nach Ansicht von Philip Manow, auch umformuliert an einen Technokratendiskurs zurücksenden, der demokratische Politik selbst als etwas darstellt, das angesichts der Komplexität der Welt gar nicht mehr möglich sei – nach dem Motto 'lasst das mal die Profis machen'. "Wenn aber die Polit-'Profis' keine Lösungen liefern, dann gerät das Repräsentationsprinzip der Demokratie in die Krise. Populismus zeigt diese Krise an."

Auch Noetzel sieht die Repräsentation als wesentlichen Kern: "'Das Volk', das es empirisch gar nicht gibt, fühlt sich politisch entmündigt. Deshalb gehen alle populistischen Bewegungen mit großen Versammlungen und einer Art von direkter Demokratie einher: Der Brexit etwa war eine Referendumskampagne und auch die AfD setzt sich für direkte Demokratie ein."

Verlust der Diskursfähigkeit auf beiden Seiten

Bei der Umwerbung populistischer Anhänger zählt das Image mehr als der Wahrheitsgehalt der Versprechen. Der Brexit-Hardliner Johnson wiederholte wissentlich falsche Angaben zu den Kosten der britischen EU-Mitgliedschaft. Trump leugnet oder ignoriert regelmäßig Fakten aus der Wissenschaft. "Es gibt ein neues Klima des Stolzes auf Irrationalität und Dummheit. In der liberalen Demokratie kommt es auf Diskussion und das bessere Argument an. Populisten brechen absichtlich mit diesen Formen. Auch offensichtliche Lügen wie bei Trump und Johnson spielen überhaupt keine Rolle, weil deren Anhänger moralische Anrüchigkeit akzeptieren," sagt Thomas Noetzel.

"Es gibt ein neues Klima des Stolzes auf Irrationalität und Dummheit." Thomas Noetzel

"Wir leben wahrscheinlich am Beginn einer neuen antiaufklärerischen Epoche und der Populismus ist ein politischer Ausdruck davon", so Noetzel weiter. Das äußere sich auch in allgemein gesellschaftlichen Verrohungssyndromen, wie etwa die Sprache im Internet zeige.

Auch Teile eines eher linken Spektrums, im Bereich der 'political correctness', verlieren ihm zufolge Rationalität und Differenzierungsvermögen. "Wenn zum Beispiel Diskurse eingeschränkt werden, weil sich Studierende in Seminaren bei einem Thema schlecht fühlen, ist das ein Defizit an politischer Urteilskraft", so Noetzel. Links wie rechts mangele es an der Fähigkeit, Ambivalenz auszuhalten und am Vorstellungsvermögen, dass der Gesprächspartner vielleicht Recht haben könnte.

Direkte Auswirkungen für die Wissenschaft

Unter der populistischen Engstirnigkeit leidet auch die Wissenschaft. Noetzels Ansicht nach sind populistische Bewegungen und Parteien, wenn sie einmal an der Macht sind, eine direkte Bedrohung für die Wissenschaft. "Das sieht man etwa in Ungarn, das sieht man in Polen."

Parallel schwinden das gesellschaftliche Ansehen und Vertrauen in die Wissenschaft. Philip Manow meint dazu: "Während der Leave-Kampagne in Großbritannien gab es dieses Zitat von Michael Gove: 'people in this country have had enough of experts'. Ist das nun ein populistischer Anschlag auf die Wissenschaft? Vielleicht eher Ausdruck davon, dass es 'die' Wissenschaft gar nicht gibt. Sie ist selbst plural. Für nahezu jede politische Position lässt sich eine entsprechende Expertise zitieren – wenn wir mal von 'flat-earthern' und Klimawandelleugnern absehen." Der Brexit sei nun aber kein von Naturgesetzen determinierter Vorgang. Das breite Publikum, das sich im politischen Diskurs eindeutigen wissenschaftlichen Rat erhoffe, erhalte oft extrem unterschiedliche Bewertungen. "Das wirkt ermüdend und irgendwann glauben die Leute dann nur noch das, was sie ohnehin glauben wollen."

"Für nahezu jede politische Position lässt sich eine entsprechende Expertise zitieren." Philip Manow

Dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse gelegentlich widersprechen, ist unumgänglich und essenziell für Wissensvielfalt und einen konstruktiven Umgang mit wissenschaftlichen Irrtümern. Kritisch wird es immer dann, wenn Wissenschaft und politische Interessen aufeinander treffen.

Manow ergänzt hierzu: "Wenn wissenschaftliche Erkenntnis im politischen Streit nur für ein 'das geht nicht' genutzt wird, suggeriert das einen Handlungsspielraum von Politikern, der gegen Null tendiert." Personen wie Trump seien hier disruptiv und setzten sich über Bedenken systematisch hinweg. "Das ist populär, weil es – im Gegensatz zum Diskurs des Bedenkens – Handlungssouveränität signalisiert." Das könne völlig verheerend sein, etwa beim Leugnen des Klimawandels durch Trump und Bolsonaro, könne aber auch durchaus für die betreffenden Wählergruppen zielführend sein, etwa im Falle von Trumps Neo-Protektionismus.

Thomas Noetzel mahnt zu kritischer Selbstreflexion: "Die Wissenschaft muss sich in ihrer Außendarstellung vor Hybris hüten. Wenn Prognosen abgegeben werden, die sich dann doch als falsch erweisen, dann verschlechtert das auch den Ruf der Wissenschaft." Etwas mehr Demut und Bescheidenheit seien ein guter Ansatz, gepaart mit Selbstbewusstsein und Hartnäckigkeit. "Wer nicht beharrlich ist und sich gegen Widerstände zu behaupten weiß, der gehört nicht in die Wissenschaft", so Noetzel.

Die Politik braucht klare Antworten auf Populismus

In der Politik fehlten seiner Ansicht nach Antworten auf grundlegende gesellschaftliche Fragen. "Die Rassemblement National in Frankreich ist besonders in strukturschwachen, abgehängten Gebieten in den Randlagen der Städte stark. Da hapert es am Nahverkehr, da ist die infrastrukturelle Versorgung schwach." Die Politik müsse die Interessen der Bürgerinnen und Bürger befriedigen. "Das gilt im Übrigen auch für Ostdeutschland", sagt Noetzel. Zudem plädiert er dafür, die Sicherheit als gesellschaftliches Gerechtigkeitsthema zu entdecken.

Um die Wahrnehmung eines demokratischen Defizits zu beheben, fordert er gesellschaftliche Diskursräume und neue Diskussionsforen zu eröffnen. "Das hat bei Macron in Frankreich in Reaktion auf die Gelbwestenbewegung ganz gut gewirkt, das kann man auch in Deutschland so praktizieren", meint Noetzel. Gleichzeitig müsse man bestimmte ideologische Teile in populistischen Parteien auch politisch bekämpfen.

Entspannter sieht das Philip Manow: "Populismus ist ein politischer Kampfbegriff. Populist ist immer der andere. Soll es in einer Demokratie lieber unpopulär, bürgerfern und mit maximal komplexen Botschaften zugehen?" Auch ob Johnsons neu erlangte Macht von Erfolg gekrönt sein werde, ist Manow zufolge momentan noch völlig unklar – angesichts der verfahrenen Lage um den Brexit hält er das eher für unwahrscheinlich. "Es kann gut sein, dass er Ende Oktober als ein spektakulär erfolgloser Premier dastehen wird. Time will tell."