Mehrere Häuser aus weißen Bauklötzen in einer Reihe, das mittlere Haus mit rotem Dach
mauritius images / Westend61 / HuberStarke

Hochschulleitung im Wandel
"Alles an der Uni hat die Tendenz, größer zu werden"

Wie haben sich die Hochschulen in den letzten Jahrzehnten verändert? Was bedeutet es heute, eine Uni zu leiten? Eine Analyse von Erfahrungsberichten.

Von Claudia Krapp 28.07.2022

Ein Blick in die Vergangenheit verleitet zur Nostalgie, scheint im Rückblick doch vieles einfacher gewesen zu sein als die Probleme, die uns heute bewegen. Gerne vergessen werden dabei die Weiterentwicklungen, die überwundenen Hürden und inzwischen etablierten Standards, die einst mit kleinen Schritten verbunden waren. Zusammen bilden sie das "neue Normal". Im Hier und Heute sind Hochschulen nicht mehr das, was sie einmal waren – im nostalgisch negativen, aber auch im positivsten Sinn.

Was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Und was ändert sich jetzt gerade? Vier langjährige Präsidenten und Präsidentinnen an deutschen Hochschulen, mit denen Forschung & Lehre gesprochen hat, zeichnen ein Bild, das den Wandel greifbar macht.

"Eine Hochschule zu leiten, bedeutet heute nicht mehr dasselbe wie früher." Sabine Doering-Manteuffel

"Eine Hochschule zu leiten, bedeutet heute nicht mehr dasselbe wie früher", berichtet Sabine Doering-Manteuffel, seit 2011 Präsidentin der Uni Augsburg. Ein Grund dafür sei, dass sich die Größe der Universitäten gravierend verändert habe. Die steigenden Studierendenzahlen und Ausbaupläne hätten die Hochschulen stark wachsen lassen. Dadurch seien nun ganz andere Managementstrategien erforderlich. Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren im Wintersemester 2021/22 rund 2,95 Millionen Studierende eingeschrieben, im Winter 2010/11 waren es noch 2,22 Millionen, 2000/01 rund 1,80 Millionen und 1990/91 rund 1,71 Millionen. "Die heutigen Größenordnungen der Universitäten sind kaum noch vergleichbar mit dem, was man noch vor wenigen Jahrzehnten hatte", sagt Doering-Manteuffel.

Corona hat die Hochschulorganisation herausgefordert

Mit neuen Dimensionen gehen veränderte Strukturen einher. Für gewöhnlich verläuft die Umstellung an Hochschulen aber eher gemächlich. Den vergleichsweise plötzlichen Umbruch durch die Corona-Pandemie müssen sie erst noch verdauen. "Die Pandemie war eine Herausforderung für die Organisation von Lehre und Forschung. Das zeigt, dass Hochschulleitung nicht nur mit Wissenschaft zu tun hat, sondern auch mit betrieblichen Strukturen", berichtet Dieter Lenzen, bis Februar 2022 Präsident der Universität Hamburg. "Das Pandemie-Management war unglaublich zeitaufwändig", bestätigt Anja Steinbeck, seit 2014 Rektorin der Universität Düsseldorf. "Wir haben im ersten Jahr nichts anderes gemacht, als alles irgendwie am Laufen zu halten." An ihrer Uni habe ein- oder zweimal wöchentlich eine Taskforce getagt, in der sie selbst und alle betroffenen Akteure vertreten waren. "So konnten wir, als sich die Ereignisse überschlagen haben, Entscheidungen sofort treffen, ohne lange Umwege."

Eine Corona-Taskforce hätten viele Unis gegründet, sagt Doering-Manteuffel. Auch dort hat die Pandemie bestehende Abläufe durcheinandergewirbelt. "Wir brauchten sämtliche administrativen Kräfte, um das sich stetig verändernde Pandemie-Regelwerk zu managen. Wir hatten Arbeitskreise, die ausschließlich die digitale Lehre administriert haben", sagt sie. Zudem habe ihre Uni ein großes Digitalisierungszentrum gegründet – eine Investition in ein langfristiges Zukunftsthema, das ohnehin anstand.

"Der Digitalisierungsgrad hat sich gravierend geändert." Sabine Doering-Manteuffel

Einer Umfrage des HIS-Institut für Hochschulentwicklung zufolge rechnen die Leitungen deutscher Hochschulen nach Corona mehrheitlich mit einem dauerhaften Trend zur hybriden Lehre, für den jedoch noch weitere Anpassungen nötig seien. Die meisten haben dafür eine Digitalisierungsstrategie. "Während meiner Amtszeiten hat sich der Digitalisierungsgrad der Universitäten gravierend geändert, durch die internationale Vernetzung, aber auch durch die Zwangsinnovationen der Corona-Zeit", so Doering-Manteuffel. Der Aufwand sei dabei deutlich unterschätzt worden.

Wissenschaft muss mehr kommunizieren

Mit der Pandemie hat sich auch der Blick von außen auf die Hochschulen weiter verändert. Rund drei Viertel der Hochschulen haben während Corona ihre Kommunikation ausgeweitet, zeigt das Hochschul-Barometer 2021. Die meisten wollen künftig ihr öffentliches und politisches Auftreten optimieren. "Die Presseanfragen haben in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen", berichtet Anja Steinbeck. Denn bereits vor Corona hat sich der Dialog der Öffentlichkeit mit der Wissenschaft verstärkt und auch die Erwartungen an ihr Auftreten sind gestiegen. "Wissenschaftskommunikation muss heute professioneller betrieben werden", ist auch Lenzens Eindruck.

Dass Wissenschaft sich und ihr Wissen mehr erklären muss als früher, bekräftigt auch Sabine Doering-Manteuffel. Dafür stehe heute entsprechend mehr Personal zur Verfügung. "Als ich 1993 in die Uni Augsburg eintrat, hatten wir nur einen Pressesprecher. Heute brauchen Sie zusätzlich jeweils jemanden für Webredaktion, Social Media, Grafik und Design, sowie Krisenmanagement und Marketing. So eine Abteilung hat heute 10 bis 15 Leute pro Hochschule." Und das könne man durchaus noch ausweiten angesichts der steigenden Erwartungen der Gesellschaft an die Wissenschaftskommunikation.

Nachhaltigkeit rückt in den Vordergrund

Das öffentliche Bild der Hochschulen hat sich durch die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gewandelt. So ist auch die ökologische Diskussion in den Vordergrund gerückt. "Das Thema Nachhaltigkeit gab es bei meinem Amtsantritt vor acht Jahren noch nicht auf Rektoratsebene. Jetzt haben wir einen Prorektor, der für das Thema zuständig ist, und ein Centre for Sustainability Management", sagt Steinbeck.

"Das Thema Nachhaltigkeit schiebt sich wie eine tektonische Platte in die älteren Fragen und Aufgaben der Hochschulen", bemerkt auch Doering-Manteuffel. Hinzu komme die Solidaritätsidee, die das ältere Thema Konkurrenz überlagere und konterkariere. "Da sind wir in einer Entwicklung, ausgelöst durch die Pandemie und den Klimawandel."

"Die Werte verschieben sich: Weg von Profit und Wachstum." Anja Steinbeck

Sind die Hochschulen bei dieser Entwicklung Treiber oder Getriebene? "Ich glaube, dass die generell zunehmenden Solidaritätsgedanken übertragen werden auf die Universitäten", meint Steinbeck. "Unsere Gesellschaft wandelt sich. Früher waren Gehalt und möglichst lange Arbeitszeiten die Währung und ein Zeichen von Erfolg für junge Menschen. Heute wünschen sie sich Work-Life-Balance und Vereinbarkeit mit der Familie. Die Werte verschieben sich: Weg von Profit und Wachstum, hin zu neuen Werten." Diese würden auf die Unis projiziert. Und die Hochschulen nehmen sie bereitwillig an: "Abgesehen von der Politik sind Universitäten am ehesten diejenigen, die diese Themen weiterentwickeln sollten", so Steinbeck.

Professorin Sabine Doering-Manteuffel ist seit Oktober 2011 Präsidentin der Universität Augsburg. Zuvor war die Ethnologin gut drei Jahre lang Dekanin der Philologisch-Historischen Fakultät.

Professor Wolfgang Herrmann war von 1995 bis 2019 Präsident der Technischen Universität München. Zuvor war der Chemiker von 1988 bis 1990 Dekan der Fakultät für Chemie.

Professor Dieter Lenzen war bis Februar 2022 Präsident der Universität Hamburg. Zuvor war der Erziehungswissenschaftler von 1999 bis 2003 Vizepräsident und bis 2010 Präsident der Freien Universität Berlin.

Professorin Anja Steinbeck ist seit November 2014 Rektorin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zuvor war die Juristin fast vier Jahre lang Prorektorin für Planung, Finanzen und Gender an der Universität zu Köln.

Was Hochschulen und Gesellschaft voneinander erwarten

Die befragten Hochschulleitungen teilen weitgehend die Ansicht, dass Hochschulen grundsätzlich eine Vorbildrolle in der Gesellschaft einnehmen sollten. "Hochschulen übernehmen noch zu wenig gesamtgesellschaftliche Verantwortung", findet Wolfang Herrmann, der von 1995 bis 2019 die TU München geleitet hat. "Die Universität ist Dienerin der Gesellschaft und sollte ihre Agenda an den sich wandelnden gesellschaftlichen Herausforderungen orientieren", sagt er.

Doering-Manteuffel verweist darauf, dass Hochschulen bereits mehr gesellschaftspolitische Aufgaben als früher übernehmen. Doch welche als solche zählen, scheint sich mit der Zeit zu ändern. Lenzen berichtet rückblickend etwa, dass der frühere Anspruch an Hochschulen, allgemeine Persönlichkeits- und Weltbildung von Menschen zu betreiben, sehr stark zurückgedrängt worden sei.

"Insgesamt sollten Universitäten ein Vorbild sein für Demokratieverständnis", findet Doering-Manteuffel. Unis seien Ausbildungsstätten, auch für ein staatsbürgerliches Verständnis und Toleranz in der Gesellschaft. "Allerdings kann man Universitäten auch nicht mit allen gesellschaftlichen Problemen überfrachten", warnt sie. Bei der Modernisierung der Gesellschaft seien alle gefragt.

Dass man heute dieselben Erwartungen, die man an Unternehmen stellt, auch an Hochschulen richtet, liegt nach Ansicht von Steinbeck daran, dass Unis heute stärker wahrgenommen werden. "Sie sind mehr im Blickfeld der Bevölkerung." In den 1950er oder 60er Jahren hätten Hochschulen eher ein Nischendasein geführt, weil nur etwa 15 bis 20 Prozent eines Abschlussjahrgangs an eine Universität gingen. "Heute studiert rund die Hälfte aller Abiturienten. Dadurch gibt es auch viel mehr Eltern, deren Kinder studieren und die so einen stärkeren Bezug zu Hochschulen haben", sagt sie.  

Politischer Rahmen weitgehend unverändert

Während sich die Anforderungen an die Hochschulen erweitert haben, hat sich deren Unterstützung seitens der Politik im Wesentlichen kaum verändert, berichten die befragten Hochschulleitungen. Nach wie vor beherrschen finanzielle Probleme die Hochschulen. Da sich Hochschulpolitik seit jeher nach Bundesland und Region unterscheidet, sind einige Hochschulen finanziell besser ausgestattet als andere. Doch trotz vielerorts hinreichender laufender Mittel, sorgen sich alle Leitungen um zukünftige und für Verbesserungen zusätzlich notwendige Mittel.

"Die Grundfinanzierung ist schon sehr lange und nach wie vor ein großes Thema an den Universitäten", sagt etwa Doering-Manteuffel. Zwar würden die bayerischen Unis im Bundesvergleich recht gut ausgestattet. Andernorts würden aber einzelne Fachbereiche oft mit Sonderfinanzierungen in Gang gebracht, was nicht nachhaltig finanziert sei. "Da wäre eine erhöhte Grundfinanzierung teils sinnvoller, insbesondere weil diese auch der Infrastruktur zugutekäme, bei der es an vielen älteren Unis hapert", so Doering-Manteuffel. Außerdem hingen Rankingplatzierungen der Universitäten hauptsächlich an ihrer Grundfinanzierung. "Wenn sich die Politik dem internationalen Wettbewerb weiterhin stellen will, muss sie auch die Finanzierung anpassen", meint die Augsburger Präsidentin.

Wolfgang Herrmann sieht das etwas anders: Zwar sieht auch er einen gestiegenen finanziellen Bedarf der Unis, ist aber skeptisch, ob dafür die Grundausstattung der Hochschulen pauschal und prinzipiell erhöht werden sollte. "Zur Führung einer Hochschule gehört es auch, sich immer möglichst nah an das Budget der Konkurrenz heranzuarbeiten, um sich Lehre und Forschung auf Spitzenniveau leisten zu können. Wichtiger als das Klagen über Unterfinanzierung im nationalen und internationalen Vergleich ist aber eine Vision, was man mit dem Geld anfängt", argumentiert Herrmann.

"Ich nenne es die Farbe des Geldes." Anja Steinbeck

Die Düsseldorfer Rektorin Steinbeck sieht ein großes Problem in der zunehmenden Zweckbindung der Mittel, die eine flexible Handhabung verhindere und viel Bürokratie bedeute. "Ich nenne es die Farbe des Geldes: Wenn es zum Beispiel grünes und rotes Geld gibt, darf grünes Geld nicht für rote Zwecke ausgegeben werden et cetera", erklärt sie. Die Summe sei über die Jahre im Grunde gleich geblieben, sie sei heute aber durch immer engere Zweckbindung weniger wert. "Und Zusatzmittel sind in NRW eher wenig zu holen, anders als zum Beispiel in Bayern", so Steinbeck.

Obendrein gibt es an den deutschen Universitäten einen seit Jahren anwachsenden Sanierungsstau, der sich Prognosen zufolge weiter verschärfen wird. Auch die Befragten sehen einen riesigen Ausbaubedarf. "Bei der Infrastruktur wird es immer schwieriger, die nötigen Mittel zu erhalten. Die Raum- und Platzprobleme haben in den letzten Jahren zugenommen, auch weil die Forschung technisch immer anspruchsvoller wird", sagt Steinbeck. Zum Beispiel müssten naturwissenschaftliche Labore bestimmte Sicherheitsstandards erfüllen, die heute höher seien und von den Gebäuden aus den 60er Jahren nicht erfüllt werden könnten. "Neue Gebäude kosten viel Geld und Zeit, beides fehlt", erklärt Steinbeck.

Aus neu wird normal

Das Verhandeln mit der Politik um eine auskömmliche Finanzierung ist und bleibt eine der unveränderten Kernaufgaben der Hochschulleitungen. In einer umfassenden Befragung durch Forschung & Lehre aus dem Jahr 2007, an der 77 Präsidenten oder Rektoren teilgenommen hatten, berichteten Rektoren und Präsidenten zudem überwiegend, sich vor allem um die Qualität der Professoren, der Fakultäten und der Studiengänge zu kümmern. Zu ihren Kernanliegen zählten sie also hochwertige Forschung und Lehre, in Anlehnung an das humboldtsche Bildungsideal, das bis heute gilt.

Inzwischen gibt es eine Reihe an neuen Aufgaben, die für Hochschulen mittlerweile selbstverständlich sind. Dazu zählen etwa Gleichstellung, Personalentwicklung und Transfer, so die befragten Hochschulleitungen. "Und natürlich gehen auch Internationalisierung und Interdisziplinarität weiter, weil die Herausforderungen der Welt nicht mehr nur im Alleingang gelöst werden können", ergänzt Steinbeck. "In den vergangenen Jahrzehnten mussten sich die Universitäten vermehrt dem nationalen und internationalen Wettbewerb stellen. Rankings kannten wir vor 25 Jahren noch nicht", berichtet auch der langjährige Münchner Präsident Herrmann. In diesem Gefüge seien Internationalität und Interdisziplinarität vielerorts vorangekommen.

"Die Gleichstellungsdebatte hat sich weiterentwickelt." Wolfang Herrmann

Besonders prominent bleibt die Gleichstellungsdebatte, die sich laut Herrmann seit rund 20 Jahren kontinuierlich gehalten hat. "Inzwischen hat sie sich in die Diversitätsfrage hinein weiterentwickelt." Als er bei seinem Antritt 1995 den Bau eines Kindergartens versprochen habe, um die berufliche Vereinbarkeit zu verbessern, seien "die Leute völlig entgeistert" gewesen. Bis zum Ende seiner Amtszeit 2019 habe sich der Professorinnenanteil an der TUM von ehemals unter einem Prozent auf immerhin 18 Prozent erhöht. "Dafür habe ich als Präsident oft in die Berufungsverfahren eingegriffen", berichtet Herrmann.

Personelle Veränderungen seien an Hochschulen nach wie vor schwer durchzusetzen, sowohl Frauen als auch dem wissenschaftlichen Nachwuchs mangele es an Berufschancen, meint er. "Aufgabe der Hochschulleitungen bleibt es aber, die Begabung der Leute zu fördern und systematisierte Laufbahnen für den akademischen Mittelbau zu erfinden." Eine Aufgabe, an der bislang noch alle Hochschulen gescheitert sind, wie die weiterhin hohen Befristungsquoten und geringen Chancen auf eine wissenschaftliche Laufbahn zeigen. Die prekären Arbeitsbedingungen im Mittelbau sind auch heute noch aktuell und vieldiskutiert, zum Beispiel anlässlich des neuen Berliner Hochschulgesetzes und in der #IchbinHannah-Debatte um eine Reform des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes.

Wettbewerb auf dem Rückzug

Während sich einige Themen hartnäckig halten, weil das angestrebte Ziel noch lange nicht erreicht ist, wurden andere, einst wichtige Aufgaben für Hochschulleitungen langsam zurückgedrängt. "An der Jahrtausendwende wurde der starke Einfluss der unternehmerischen Steuerung die größte Herausforderung für Hochschulen", erinnert sich Dieter Lenzen, der zu dieser Zeit noch die FU Berlin leitete. "Damals wurden die Pisa-Ergebnisse intensiv diskutiert. Die Hochschulleitungen sollten daraufhin Output-Steuerung und Prozessoptimierung machen", erzählt Lenzen. Damals seien ungeprüft Steuerungselemente von Produktionsbetrieben übernommen worden, obwohl Hochschulen im Kern Dienstleistungsbetriebe seien.

"Dieses Verständnis von Hochschulen als Leistungsbetrieben hat sich inzwischen verfeinert." Dieter Lenzen

"Dieses Verständnis von Hochschulen als Leistungsbetrieben hat auch eine große Rolle im Bologna-Prozess gespielt, hat sich inzwischen aber zum Glück verfeinert und ist etwas zurückgedrängt worden", sagt Lenzen. Es sei ein schleichender Rückbildungsprozess. Auch Doering-Manteuffel sieht den Wettbewerb auf dem Rückzug. "Der Blick auf Rankings war zu meinem Amtsbeginn noch viel intensiver als jetzt. Das wettbewerblich Internationale spielt für viele Unis noch eine große Rolle, aber inzwischen ist das durch andere Themen etwas überlagert worden", sagt sie.

Rankings gelten nicht länger als eines der wichtigsten Themen für Hochschulen. Dieser Trend zeigte sich bereits in der Rektorenbefragung 2007, obwohl Ranglisten damals noch deutlich stärker diskutiert wurden. Auch die zu der Zeit in der Hochschulpolitik geforderten Aufgaben des Fundraisings und der Alumni-Pflege beschäftigten die Leitungen eher wenig. Heute sind diese Forderungen aus der hochschulpolitischen Debatte weitestgehend verschwunden.

Mehr Personal für immer mehr Aufgaben

Unterm Strich sind für Hochschulleitungen aber mehr Themen erhalten geblieben als verschwunden und zahlreiche neue sind hinzugekommen. "Alles an der Uni hat die Tendenz, größer zu werden. Es kommen immer mehr Aufgaben auf eine Hochschule zu", fasst es Anja Steinbeck zusammen. "Wir finden aber leider keine Aufgaben, die wir mal sein lassen könnten, da wir alles auch für wichtig erachten." Entsprechend hat sich auch der Mitarbeiterstab der Hochschulleitungen vergrößert, um der Vielzahl der Aufgaben gerecht zu werden.

Generell gibt es heute viel mehr Stellen in den Stäben der Präsidien und Vizepräsidien als früher, bestätigt Doering-Manteuffel. "Sie brauchen zum Beispiel jemanden, der sich mit Digitalisierung beschäftigt oder mit Internationalisierung und auch Karriereplanung. Diese Themen hat es früher in den Stäben nicht gegeben, heute sind sie oft direkt an den Präsidien angesiedelt, als strategische Unterstützung", erklärt sie. "Ich habe 1995 mit zwei Sekretärinnen und einem Referenten in meinem Präsidium angefangen", erinnert sich Herrmann. Durch neue Aufgaben habe er zusätzliche Leute gebraucht. Diese Stäbe hätten sich dann ausgehend vom Präsidium auch in den Fakultäten entwickelt. "Inzwischen sind das je dutzende Mitarbeiter pro Stab, was es oft unübersichtlich macht", so Herrmann.

Während es früher an den Unis ausschließlich Verwaltungspersonal und wissenschaftliches Personal gab, habe sich in den letzten Jahren dazwischen ein "dritter Karriereweg" im Wissenschaftsmanagement entwickelt, berichtet Doering-Manteuffel. Dieser sei inzwischen stark ausgeprägt. "Sie haben in den Präsidialstäben heute mehr Leute, die aus der Wissenschaft kommen, aber eine administrative Zusatzqualifikation haben." Das sei sehr hilfreich.

Mehr Frauen in der Hochschulleitung

Parallel zu den Präsidialstäben haben sich die Hochschulleitungen selbst verändert. Inzwischen leitet jede vierte Hochschule eine Frau. Die Quote an Rektorinnen und Präsidentinnen an staatlichen deutschen Hochschulen lag laut einer Auswertung des CHE Centrum für Hochschulentwicklung Ende 2021 bei 25 Prozent. Einschließlich Vizepräsidentinnen, Prorektorinnen und Kanzlerinnen lag der Anteil weiblicher Führungskräfte 2020 bei 30 Prozent, zeigt eine Analyse des GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften. Bis 2000 lag der Wert noch bei rund 10 Prozent, bis 2010 stieg er auf 20 Prozent. Der steigende Trend wird also fortgeschrieben.

Seit 2017 ist laut CHE  rund jeder zweite Präsidenten- oder Rektoren-Posten neu vergeben worden. Diese Fluktuation in den Hochschulleitungen nach ein bis zwei Amtszeiten bestätigt die Rektorenumfrage von 2007: Etwa jeder Dritte (35 Prozent) war drei bis fünf Jahre im Amt, fast genauso viele (31 Prozent) sechs bis zehn Jahre oder weniger als zwei Jahre (27 Prozent). Sabine Doering-Manteuffel hat den Eindruck, die Fluktuation sei bei Präsidentinnen höher als bei ihren männlichen Kollegen. "Meines Erachtens überstehen viele Frauen ihre erste Amtszeit nicht gut." Über die Gründe  könne sie nur spekulieren.

Statistiken, die die Dauer der Amtszeiten der Hochschulleitungen nach Geschlecht erheben, gibt es nicht. Allerdings lassen sich Präsidentinnen mit einer vergleichsweise langen Amtszeit im Gegensatz zu langjährigen Präsidenten an einer Hand abzählen: Neben Sabine Doering-Manteuffel, die die Uni Augsburg seit 2011 leitet, stand Katharina Krause 12 Jahre an der Spitze der Uni Marburg, Merith Niehuss steht der Hochschule der Bundeswehr in München seit 2005 vor. Anja Steinbeck leitet die Uni Düsseldorf seit 2014.

Erfolgreiche Führung bedeutet Teamarbeit

Der am längsten amtierende Präsident einer deutschen Hochschule ist mit Abstand Wolfgang Herrmann, der 24 Jahre die TUM geleitet hat. Wie haben sich die Anforderungen an seinen Job in dieser Zeit verändert? "Ich erinnere mich an eine vergleichsweise unkritische, unstrategische und nicht vorhandene Führungsstruktur der 1980er Jahre. Die zunehmende Internationalität und Interdisziplinarität haben in den 1990er Jahren nach neuen Führungsstrukturen verlangt. Man konnte die Agenda nicht mehr allein den Fakultäten überlassen, sondern musste als Präsident Visionen für eine moderne Universität erarbeiten", berichtet er. Zu dieser Zeit habe sich das Amt des Präsidenten von einer eher verwaltenden zu einer intellektuell fordernden, visionären Aufgabe entwickelt.

Herrmanns Vorstellung einer erfolgreichen Leitung deckt sich mit der in der Umfrage von 2007 berichteten Einschätzung der Rektoren: Um seine Hochschule erfolgreich zu leiten, schätzte damals jeder zweite, dass man "ausgeprägte Führungskompetenzen" brauche, während nur jeder achte "allgemeine Managerqualitäten" für nötig hielt. Obwohl Managerqualitäten damals von außen stark erwartet wurden, sahen die Leitungen diese nicht als Schlüsselkompetenz für ihr Amt an. "Die Financial Times und das CHE haben mir 2009 den Titel Hochschulmanager des Jahres gegeben. Das war mir von der Terminologie her nicht recht, weil ich mich selbst nicht als Manager gesehen habe", erzählt auch Dieter Lenzen.

"Führung ist ein Gemeinschaftswerk." Wolfgang Herrmann

Was also verstehen Hochschulleitungen unter Führung und was macht einen guten Führungsstil aus? Mit Alleinherrschaft und strenger Hierarchie hat es offenbar immer weniger zu tun. "Führung ist ein Gemeinschaftswerk", meint Herrmann rückblickend. Dazu gehöre Vertrauen und Zuverlässigkeit. Die aktuelle Forderung mancher Hochschulleitungen, ihre Dekane selbst ernennen zu dürfen, sei kein Beispiel von vertrauensbildender Führung. Vielmehr müsse man miteinander agieren. In der Umfrage 2007 berichteten die Rektoren und Präsidenten von einem regelmäßigen engen Austausch mit ihrem Kanzler und in etwas schwächerer Ausprägung mit den Vizepräsidenten oder Vizerektoren.

Heute ist Teamarbeit unerlässlich geworden. "Der Zuwachs an Themen und Mitarbeitern in den Leitungsstäben erfordert, dass man einiges auf die Vizepräsidenten-Ressorts verteilt", sagt Doering-Manteuffel. Diese wiederum bräuchten ebenfalls Stäbe, die sie unterstützen, etwa bei der Zusammenstellung von Statistiken zu Studium und Lehre oder Finanzen. "Das kann ein Präsidium selber nicht mehr leisten", sagt sie. Herrmann zufolge müssen Leitungskräfte daher auch für neue Partizipationsmodelle sorgen. "Partizipation wird in deutschen Hochschulen oft als Gremienpolitik verstanden, heißt aber auch, dass der Präsident regelmäßig Personen mit Veränderungswillen nach ihrer Meinung fragt."

Auch Anja Steinbeck, die elf Jahre nach Lenzen vom CHE als Hochschulmanagerin des Jahres 2020 ausgezeichnet wurde, bezeichnet ihren Führungsstil als partizipativ, "auf Augenhöhe mit den Mitarbeitenden im Rektorat". Bevor sie entscheide, höre sie oft erstmal Prorektoren und Kanzler an. "In der Pandemie ging die Zusammenarbeit noch über das Rektorat hinaus", berichtet sie. Für einen begrenzten Zeitraum und mit Fokus auf ein Thema gehe das. "Aber auf Dauer hat Partizipation auch ihre Grenzen. Sonst kämen wir als Leitung nie zu Entscheidungen."

Welche Kompetenzen Unileitungen benötigen

Und zu entscheiden gibt es vieles. Woran können Hochschulleitungen sich dabei orientieren? Lenzen zufolge hängt der Führungsstil einer Hochschule stark von deren Personal ab: "Wenn Sie es hauptsächlich mit Ingenieuren zu tun haben, ist das etwas anderes, als wenn Sie eine geisteswissenschaftlich dominierte Universität leiten, weil dort Wertfragen eine viel größere Rolle spielen", sagt er.

Ein paar Eigenschaften sollten Hochschulleitungen aber auch selbst mitbringen. "Ein wesentliches, zeitloses Führungskriterium ist, ehrlich zu sein", meint Herrmann. Insbesondere aber müsse man den Mut haben, voranzugehen. "Der neue Führungsstil beinhaltet vor allem, Initiativen zu starten und dann Unterstützer zu finden." Steinbeck setzt scheinbar auf die umgekehrte Vorgehensweise: "Als Hochschulleitung muss man sich stark zurücknehmen können. Sie können nicht wie ein Unternehmer mit einer Vision losmarschieren und diese topdown umsetzen", sagt sie. Einzelentscheidungen von oben seien an einer partizipativen Hochschule undenkbar. Als Rektor oder Präsident könne und müsse man allerdings die Richtung vorgeben. Vor und während der Umsetzung müsse man alle einbinden und überzeugen. "Ich halte es dabei für eine wichtige Fähigkeit, seine eigene Ansicht nicht immer und ohne Zweifel als die maßgebliche anzusehen", erklärt Steinbeck. Man könne sich schließlich auch irren.

"Als Hochschulleitung muss man sich stark zurücknehmen können." Anja Steinbeck

Ähnlich betrachtet Doering-Manteuffel ihr Amt. "Als Präsidentin oder Präsident sollte man sich selbst als Unterstützer empfinden", meint sie. Dafür rät sie zum Fokussieren: "In der ersten Amtszeit sollte sich jeder ausschließlich um die eigene Uni kümmern und nicht mit weiteren Ämtern überfrachten. Sie müssen als Hochschulleitung vor Ort sein und die Leute kennen", sagt sie. Besonders schwer hätten es jene, die von außen kommend eine Uni leiten. Das bestätigt Anja Steinbeck: "In meinen ersten zwei Jahren in Düsseldorf hatten die Prorektoren, die im Gegensatz zu mir schon zehn Jahre oder länger an der Uni waren, besonders viel Einfluss", erzählt sie. In diese Struktur habe sie sich erst einfinden müssen, bevor sie sich durchsetzen und ihren Teammanagementstil einführen konnte. Laut der Rektorenumfrage von 2007 waren mehr als die Hälfte der Leitungen bereits vor Amtsübernahme an derselben Hochschule.

Wie Hochschulen mit künftigen Entwicklungen umgehen sollten

Ob an der eigenen oder einer fremden Uni, Hochschulleitungen werden auch in Zukunft vor neue Aufgaben und Herausforderungen gestellt werden, denn auch Zeitfragen gehen an ihnen nicht vorüber. Akute Krisen treffen Hochschulen genauso wie den Rest der Gesellschaft. Lenzen findet daher: "Gegenüber künftigen Krisen müssen das System Hochschule und seine Beteiligten resilienter werden." Während die Pandemie noch nicht überstanden ist, brach im Februar der Ukraine-Krieg aus und erneut waren auch die Hochschulen gefordert. "Genauso wie der Prorektor für Lehre plötzlich zwei Jahre mit Corona am Anschlag gefordert war, genauso ist seit Kriegsbeginn der Prorektor für Internationales beschäftigt", berichtet Steinbeck. Die deutschen Hochschulen haben kurzfristig Hilfsangebote für Ukrainerinnen und Ukrainer initiiert oder ausgeweitet. "In diesem Ausmaß gab es Angebote für bedrohte Studierende und Wissenschaftler vor zehn Jahren nicht", bemerkt Doering-Manteuffel. Doch angesichts der jetzigen zahlreichen Krisen sei eine Vernetzung der Wissenschaft in Europa fast elementar, resümiert sie.